856_Von einem, der auszog
Das Leben sollte immer geprägt sein von Entwicklung. Sonst wird es langweilig und sinnlos. Bei mir ist diesbezüglich gerade einiges los. Zunächst einmal habe ich mich entschieden, nicht mehr schnarchen zu wollen. Man selbst hört das ja gar nicht, obwohl man es verursacht. Aber die nähere Umgebung wird wahnsinnig von Lautstärken um 100 Dezibel. Und wer weiß, vielleicht merkt man auch nicht, dass man des Nachts Atemaussetzer hat und deshalb morgens immer so müde ist.
Ich bekam jedenfalls jüngst eine Protrusionsschiene. So heißen die Plastikeinsätze für Ober- und Unterkiefer, die man sich vor dem Einschlafen ins Maul klemmt und die den Unterkiefer um ein paar Millimeter nach vorne bewegen. Man sieht damit aus wie der unglaubliche Hulk, kurz bevor er einen Reisebus in ein Hochhaus wirft. Aber sieht ja niemand, ist ja dunkel.
Ich komme damit vom Zahnarzt und wecke Nick, weil er gerne ausziehen will, das ist die zweite große Entwicklung bei uns zuhause. Er erklärt mir, dass fünf Freunde gegen zwölf Uhr kämen, und dreht sich noch einmal um. Gegen dreizehn Uhr erscheinen tatsächlich zwei Helfer, nämlich Franz und Lilly, die erst einmal zum Rauchen auf den Balkon geht und dort bleibt. Franz fragt, wann es Pizza gebe, ich stelle ihm eine in Aussicht, sobald wir alles in Nicks Wohnung gebracht haben. Wir rechnen mit guten zwei Stunden. Nick, Franz und ich beginnen damit, Kisten zu packen, Schränke, Regale und das Bett zu zerlegen und Nicks Kram drei Stockwerke nach unten zu schleppen. Irgendwann hole ich einen Car-Sharing-Sprinter. Als ich zurück in die Wohnung komme, greift Nick seine Matratze und kugelt sich dabei die rechte Schulter aus. Also wähle ich die Nummer des Notrufs. Kurz darauf tauchen zwei Rettungssanitäter auf, die uns mitteilen, dass sie eine Schulter zwar einrenken könnten, aber nicht dürften. Sie bestellen einen Notarzt und geben Nick Schmerzmittel, die ihn binnen weniger Minuten sehr verzaubern. Dann kommen gleich zwei Notärzte sowie drei Mann von der Feuerwehr. Es wird langsam voll in Nicks Zimmer, zumal Lilly mal nachsehen will, warum plötzlich so ein Betrieb herrscht.
Ich trage weiter Kisten runter, auch um Platz zu schaffen für die ganzen Gäste. Darauf schnauzt mich ein Feuerwehrmann an, ob ich das mal lassen könne, schließlich finde hier ein Einsatz statt. Ich frage ihn, worin eigentlich seine Aufgabe dabei bestehe, und lege ihm nahe, unten auf der Straße nach einem Baum mit einer Katze zu suchen. Der Feuerwehrmann ist beleidigt und zieht sich zum Rauchen auf den Balkon zurück.
Der Notarzt verkündet, dass er die Schulter zwar einkugeln könne, aber nicht wolle, weil man das besser im Krankenhaus mache. Nick wird festgeschnallt, singt dabei ein Lied und wird abtransportiert. Anschließend sind Franz und Lilly nur noch schwer zu motivieren. Es gelingt mir, sie mit der Aussicht auf Bier zur Pizza zu bestechen und werde Zeuge, wie Lilly tatsächlich eine Zahnbürste nach unten bringt. Währenddessen läuft im Sprinter die Uhr.
Nick meldet sich aus dem Krankenhaus und sagt, dass er völlig vergessen habe, mir zu sagen, dass man noch eine Waschmaschine abholen müsse. Nette Leute, guter Preis, aber vierte Etage. Ohne Aufzug. Wir machen einen Umweg und holen die Waschmaschine. Lilly wartet unten. Sie muss eine rauchen. Der Stress. Gegen neunzehn Uhr kommen wir in Nicks Wohnung an. Wenig später treffen vier weitere Freunde ein, die extra damit gewartet haben, bis der Wagen leer ist, aber auch gerne eine Pizza hätten. Als diese geliefert wird, kommt Sara mit Nick aus dem Krankenhaus. Er trägt eine Schlinge um den Hals und ist bester Dinge, zumal die Freunde seine Möbel für ihn aufbauen. Darauf muss angestoßen werden. Vollkommen erschöpft falle ich wenig später ins Bett und setze meine Protrusionsschiene ein.
Am nächsten Morgen sehe ich auf der App nach, mit der ich meinen Schlaf überwache und kann es kaum glauben: Kein Schnarchen mehr. Ich laufe in Nicks Zimmer, um meine Begeisterung zu teilen. Aber das Zimmer ist leer. Nick ist weg. Niemand ist da, um dieses Wunder mit mir zu teilen. Nicht einmal ich selbst kann es hören. Manche Entwicklungen sind sehr still.