Mein Leben als Mensch — 05.09.2011

231_Eine miese Muschel

Urlaub mit meiner italienischen Familie spielt sich weitgehend am Strand ab. Ob man will oder nicht: Da bekommt man auf jeden Fall Farbe, sogar ich. Am Anfang nennen sie mich immer Mozzarella, später immerhin Pomodoro. In diesem Jahr erhielt ich jedenfalls eindeutig zu viel kurzwellige Sonnenstrahlung. Möglich, dass mein Schädel eines Tages im Max-Planck-Institut für Hirnforschung interessierten Studenten als Anschauungsobjekt zur Verfügung gestellt wird, denn er ist nicht nur knallrot, sondern auch völlig ausgedörrt. Wie ein ecuadorianischer Schrumpfkopf.
Dieser Urlaub war bisher von schweren Verletzungen geprägt. Letzte Woche bekam Onkel Egidio eine Bocciakugel an die Birne. Meine italienische Familie machte sich aber keine Sorgen um ihn. Zwar absolvierte Egidio für ungefähr eine Minute Urlaub vom Ich und stammelte den Rest des Abends sinnlos vor sich hin, aber alle außer mir sahen kaum einen Unterschied zu seinem sonst üblichen Verhalten.
Egal. Ich wollte ja von meiner Kopfverletzung erzählen. Antonio verkündete also neulich, er werde nun einen mittäglichen Hafenrundgang absolvieren. Ich begleitete ihn und er nötigte mich, frische tote Fische in Holzkisten zu streicheln. Dann zeigte er mir das Haus eines Freundes, der Miesmuscheln züchtet. Ich reagiere allergisch auf den Genuss von Meeresfrüchten, aber das bringt mich bei Antonio nicht weiter.
„Probiere eine Miesemuuschel.“
„Geht nicht. Allergie.“
„Vielleikte iste ja weg. Allergie könne weggehen.“
„Es ist nicht weg.“
„Du wirste niemals herausfindene, wenn Du nikte hier eine Muuschel probierste.“ Da hatte er nicht Unrecht. Also würgte ich ohne Vergnügen den Muschelschleim hinunter. Antonio beschloss, dass nach diesem herrlichen Snack ein Sonnenbad angezeigt sei und wir folgten dem Rest seiner Familie an den Strand. Dort hockte ich im Schatten des Regenschirms aus meinem Auto und wartete auf Allergieeffekte, bis ich von meinen Kindern und einem Trupp gleichaltriger Italiener aufgestöbert wurde. Ob ich mich eventuell eingraben ließe, fragte mein Sohn.
Zuerst legte ich mich auf den Rücken, aber das Ergebnis überzeugte die Kinder nicht, denn ich sah aus wie ein lebender Grabhügel. Also schlug Nick vor, mich lotrecht zu versenken. Die Kinder und einige Neffen und Onkels gruben ein kolossales Loch, in welches ich mich mit angewinkelten Armen stellte. Dann schaufelten sie mich ein. Bis zum Kinn. Es wurden zahllose Fotos gemacht. Gerade als ich zur Auffassung gelangte, dass es nun gut sei, klingelte die Glocke an der Strandbar. Sie machen dort ihr Eis selber. Hervorragendes Eis. Jeden Tag um 15 Uhr bimmeln sie, weil es dann die neue Sorte des Tages gibt. Großartig. Nick und seine Gang sind dann nicht mehr zu halten. „Hee. Moment mal,“ flüsterte ich, so laut ich konnte. „Nicht weggehen.“ Dann wartete ich.
Wenn ich den Kopf nach links drehte, konnte ich die Bude sehen. Und die Kinder mit dem Eis. Ich sah auch, wie sie von dort Richtung Hafenmole abzischten, immer kleiner wurden und verschwanden. Nach rechts gewandt erblickte ich meine Frau in einhundert Meter Entfernung. Sie unterhielt sich mit einem stark behaarten Kerl, der eine weiße Badehose trug, die aussah wie ein Suspensorium.
„Hallo,“ flüsterte ich. „Haaaaallo.“ Niemand hörte mich. Zwischendurch kam ein Hund vorbei und zog seine Zunge über mein Gesicht. Eine Erfrischung, immerhin. Gegen 19 Uhr wurde die Sonne schwächer. Meine Frau und die Kinder streiften über den Strand, offenbar auf der Suche nach mir. Schließlich gruben sie mich aus.
Später saß ich im Kreise meiner Lieben beim Abendessen. Mein Schädel sah aus wie eine Hagebutte. Mir war übel. Antonio Marcipane sah mich ernst an, nickte und sagte: „Dasse kommte davone, wenn man Dinge isste, die man nikte verträgte.“

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