248_Explodiere, 2011!
Wir gingen um zwanzig Minuten vor Mitternacht auf das große Feld hinter dem Haus. Carla, Nick, Sara und ich. Wir hatten einen Papierballon dabei. Ich glaube, die Dinger sind in Deutschland verboten, weil sie angeblich den Flugverkehr stören oder Erich von Däniken aufschrecken oder so. Aber manchmal muss man was total Verrücktes tun, besonders am Jahresende, wenn eh schon alles egal ist. Wir zündeten also in der weißen Fluglaterne eine Kerze an und hielten sie zu viert fest bis sie abhob und langsam in die Höhe stieg. Ich legte Nick eine Hand auf die Schulter. Er ist neun Jahre alt und es ist erst das zweite Mal, dass er bis Mitternacht durchgehalten hat. Jahrelang hat er darum gebeten, kurz vor dem Feuerwerk geweckt zu werden und drehte sich dann nur grantig zur Seite. Aber letztes Jahr haben wir dann gemeinsam Feuerwerk angezündet wie pyromanische Bekloppte.
Diesmal hatte ich keine Lust dazu. Ich wollte Ruhe, denn 2011 war so furchtbar laut. Die Weltgeschichte ist kein ruhiger Fluss, sondern ein reißender Strom, der unglaublichen Radau macht. Fukushima. Ägytpen. Tunesien. Gaddafi. Syrien. Griechenland. Überhaupt der Euro, ständig dieser Euro. Dann Erdbeben und Stürme und Überschwemmungen und die FDP und der Juchtenkäfer, die Terrorzellen und die Hochzeit von William und Kate und dieser nervenzerfetzend schreckliche Guttenberg und zu allerletzt auch noch die Sache mit dem Bundespräsidenten und dessen mittelmässigen Kumpeleien. Ein anstrengendes Jahr war es für uns Deutsche. Wenn wir irgendwann mal im hohen Alter von Guido Knopp als Zeitzeugen vernommen werden, haben wir wirklich eine Menge, Menge, Menge zu erzählen.
Ich sah auf Nick herab, der konzentriert die Fahrt des Papierballons verfolgte. Wie das Jahr wohl für ihn war? Ob er das alles schon zur Kenntnis nimmt? Das Sylvester, an dem ich neun Jahre alt war, fand 1976 statt. Ich kann mich überhaupt nur an zwei Ereignisse dieses Jahres erinnern. Björn Borg gewann in Wimbledon. Und ich fiel von einer Mauer. Die Mauer stand in Frankreich, ich saß drauf und bin rückwärts hinuntergekippt. Warum, weiß ich nicht. In meiner Erinnerung war sie mindestens fünf Meter hoch, aber wahrscheinlich stimmt das gar nicht. Ich knallte jedenfalls auf den Rücken, wurde bewusstlos und als ich erwachte, konnte ich nicht atmen, was mir furchtbare Angst machte. Aber dann ließen die Schmerzen nach und es stellte sich heraus, dass ich vollkommen unverletzt war. 1976 war für mich das Jahr mit der Mauer in Frankreich. Und nicht das Jahr der Bundestagswahl, das Jahr der Rosi Mittermeier, der Gurtpflicht oder gar der Apple-Gründung.
Ich sah auf meinen Sohn hinunter, der immer noch gebannt die fliegende Laterne beobachtete. „Was war für Dich der wichtigste Moment des Jahres?“ fragte ich ihn. Er antwortete ohne mich anzusehen: „Ich weiß nicht.“ Ich hakte nach. Irgendetwas muss es doch in diesem Jahr gegeben haben, was ihn besonders beeindruckte. Nun muss man wissen, dass Kinder in diesem Alter die Zeit kaum in Jahren abrechnen. Eher in Jahreszeiten. Oder in bewältigten Leveln. Damals, als ich noch in Level 12 war. Das könnte ein Satz von ihm sein.
Er dachte nach, das spürte ich. Dann sagte er: „Vielleicht die Sache mit dem Skateboard. War das in diesem Jahr?“
Das war es. In der Tat. Bei der Sache mit dem Skateboard hatte er einen spektakulären Stunt hingelegt. Er und sein Kumpel Finn waren auf Rollbrettern unterwegs. Sie fuhren mit vollem Orchester eine abschüssige Straße hinunter und Nick konnte nicht mehr anhalten, halb aus Begeisterung, halb aus Furcht. Schließlich krachte er mit der Spitze des Brettes gegen einen Bordstein und flog ungefähr vier Meter weit, über einen Gartenzaun in einen Rhododendron. Er verletzte sich kein bisschen dabei und es muss sagenhaft ausgesehen haben. Leider war ich nicht dabei. Aber dieser Crash war Nicks Moment 2011. Da kann ein Rösler noch so oft versprechen zu liefern. Nick hat geliefert. Und wie.
Wir sahen der Laterne hinterher, die schon fast verschwunden war. Ein wunderschöner Moment der Andacht und des Friedens. Da sagte Nick in die Stille hinein: „Du, Papa, wann explodiert das Mistding denn endlich?“ Ihm war 2011 entschieden zu leise.