252_Auto-Ausgrabungen
Für Archäologen sind Pyramiden und andere Königsgräber wundervolle Aufgaben. Sie versprechen dem fachkundigen Abenteurer Nervenkitzel und die Aussicht auf enormen Reichtum sowie Anerkennung und mindestens einen kurzen Beitrag in der Tagesschau vor dem Wetter. Mindestens ebenso reizvoll, aber viel kostengünstiger und auch mit einem kleinen Expeditionsteam machbar gestaltet sich die Erforschung unseres Autos. Dies wurde mir bewusst, als ich es jetzt saubermachen musste. Sara bestand darauf.
Ihr Vater – mein Schwiegervater Antonio – schickte sich an, uns zu besuchen. Ich sollte ihn vom Bahnhof abholen. Sara fand den Wagen dafür zu dreckig. Ich erwiderte schwach, dass es sich bei Antonio Marcipane ja nun nicht um einen Staatsgast handele, sondern um den von den Kindern frenetisch bejubelten Opa. Außerdem mache es keinen Spaß, ein Auto im Januar zu reinigen. Ein blöder Graupelschauer reicht und alles ist hin. Auch innen.
Darauf legte meine Gattin mir ausführlich dar, dass diese Sichtweise wieder einmal typisch deutsch sei. In Italien gehöre sich so etwas nicht. Dort würde sich der Respekt und die Liebe zum Familienoberhaupt eben auch darin zeigen, dass man ihn nicht in einer völlig verdreckten Karre abhole. In Deutschland, ja, da spare man an der Opaliebe und am Kleingeld für den Staubsauger. In Italien hingegen wisse man die Alten noch zu schätzen und pflege Heim und KFZ penibel, um der Freude über den Besuch der Senioren Ausdruck zu verleihen.
Ich argumentierte noch ungefähr zwanzig Minuten. Dann fuhr ich in die Autowaschanlage und anschließend nach nebenan zum Staubsauger. Ich nahm sämtliche Matten aus dem Wagen und begab mich an die Erforschung des Innenraumes. Dabei machte ich spektakuläre Entdeckungen. Zwischen den Rücksitzen fand ich ein Kabel, dass ich seit August vermisst hatte. Man schließt damit einen DVD-Player an der Rückseite der Vordersitze an. Der vermeintliche Verlust dieses Kabels hatte auf der Rückfahrt aus dem Urlaub zu einer siebenstündigen Ganzkörperverspannung unseres Sohnes geführt, weil er keine Filme gucken konnte. Stattdessen spielten wir „Ich sehe was, was Du nicht siehst“ und bastelten frivole Sätze aus den Buchstabenfolgen vor uns fahrender Auto-Kennzeichen, bis Nick der Kragen platzte und er auf einer Raststätte bei fremden Leuten vorsprach, ob diese ihn eventuell mitnehmen würden. Und ob sie zufällig einen DVD-Player im Auto hätten.
Nun grub ich Eispapierchen, Getränkeflaschen mit fragwürdigem Inhalt, angebissene Kekse, diverse Legofiguren, Haargummis, ein Feuerzeug, fünf CD-Hüllen ohne CDs, vier CDs ohne CD-Hüllen, einen USB-Stick mit einem von mir bereits halb geschriebenen Roman sowie ein Fußball-Sammelbildchen aus. Bastian Schweinsteiger. Es wunderte mich, ihn hier zu finden, denn genau auf diese Karte hatte Nick immer großen Wert gelegt. Schweinsteiger ist sein Lieblingsspieler. Er hat mich schon mehrfach darauf hingewiesen, dass er eigentlich lieber den Schweinsteiger als Vater hätte.
„Warum?“ habe ich dann immer gefragt.
„Weil er cool ist. Und außerdem kann der mir alles kaufen, was ich will. Und ich darf umsonst ins Stadion und er hat immer viel Zeit für mich, weil er nicht arbeiten muss.“
Das letzte stimmt ganz sicher nicht. Gerade an den Wochenenden hat der Mann furchtbar viel zu tun. Dann das Training und die vielen Reisen. Aber eine Adoption durch Herrn Schweinsteiger hat trotzdem reizvolle Aspekte. Immerhin kann man morgens vor der Schule mit Sarah Brandner kuscheln.
Ich saugte den Wagen und legte die Matten wieder hinein. Anschließend wischte ich den Staub ab und die Eiscreme von der Innenseite der hinteren Fenster. Ich betrachtete mein Werk schließlich ohne Genugtuung, denn ich wusste um dessen Vergänglichkeit. Dann fuhr ich zum Bahnhof und holte meinen Schwiegervater ab. Ich legte sein Gepäck in den Kofferraum und öffnete ihm die Tür. Er stieg ein, atmete tief durch und sagte: „Eh, mitten in Winter so eine pikobello saubere macchina. Weißtedu: Das iste wirklich mal wieder tipico deutsch.“ Dann fing es an zu schneien. Ob Bastian Schweinsteiger eventuell auch einen 44jährigen adoptiert?