253_Weise Sichtweisen
Auch immer wieder bemerkenswert: Die unterschiedliche Sichtweise von Töchtern und Vätern auf ihre Umwelt. Bisher wurde dieses in allen deutschen Familien brandheiße Thema von einer wissenschaftlichen Betrachtung weitgehend ausgenommen, wahrscheinlich weil die Wissenschaftler ebenfalls Väter sind und sich wie ich in ständiger Angst vor Konfrontationen mit ihren Pubertieren lieber in Laboren verkriechen. Oder im Wald.
Dort erkunden die Forscher Bäume und kommen zu erstaunlichen Ergebnissen. Letzthin las ich, dass eine Buche mit einem Kronendurchmesser von zwölf Metern eine reine Blattfläche von ungefähr 15000 Quadratmetern aufweist. Das entspricht der Größe zweier im Europacup zugelassener Fußballfelder zuzüglich Coaching Zonen. Sagenhaft. Wie bekommen die so etwas nur heraus? Man stellt sich vor, wie ein Baumforscher Buchenblatt für Buchenblatt auf zwei Fußballplätze legt. Alle 14 Minuten kommt ein Windstoß und er muss von vorne beginnen. Abends erzählt er von der Arbeit, aber seine Tochter sagt nur: „Schön blöd, sich den Tag mit so etwas zu versauen.“ Oder: „Wen interessieren denn diese doofen Blätter?“ Und da kann ich wiederum für den traurigen Wissenschaftler antworten: Mich. Denn ich bin der Familienhonk, der genau solches Laub jedes Jahr aufsammelt und entsorgt. Schon oft habe ich mich gefragt, wie groß die Fläche wohl sein mag, die man damit bedecken könnte. Nun weiß ich es und es wärmt meine Erwachsenenseele. Herzlichen Dank, verzweifelt forschende Mitväter.
Unserer Tochter Carla sind die Zusammenhänge zwischen heimischer Flora und väterlichem Gemüt total wumpe. Und es amüsiert sie höchstens, wenn ich mit vor Begeisterung bebender Stimme Wissenschaftsnews aus der Zeitung vortrage. Zum Beispiel folgende Neuigkeit, die meine Synapsen regelrecht zum Kochen bringt: Forscher haben jetzt herausgefunden, dass man den Blutdruck gewissenhaft nur an beiden Armen messen kann. Schon eine winzige Abweichung zwischen den Werten deutet auf periphere Verschlusskrankheiten hin. Schon allein das Wort macht mich wuschig. Aber jetzt kommt das dollste: Man muss den Blutdruck nicht nacheinander erst an dem einen und dann an dem anderen Arm messen, sondern gleichzeitig an beiden. Hammer! Die Geschichte des Blutdruckmessens muss neu geschrieben werden. Millionen von Arzthelferinnen gehören umgeschult und benötigen außerdem neue Messgeräte mit zweifachem Klettverschluss-Gedöns. Ein gigantischer Markt zeichnet sich ab. Jetzt muss man Blutdruckmessgeräteherstelleraktien kaufen. Und was sagt meine Tochter dazu? „Toll, Papa. Das ist ja echt der Hammer.“
Wir leben nun einmal in zwei unterschiedlichen Welten. In Carlas Welt bekommt man um 23 Uhr noch mal ein kleines Hüngerchen und verwüstet die Küche. In ihrer Welt ist es normal, um zehn vor acht Uhr noch mal Kajal aufzutragen, um dann wie Gundel Gaukeley schimpfend hinter dem Schulbus her zu rennen. In ihrer Welt kann man gleichzeitig telefonieren, chatten, Musik hören, Besuch haben und Hausaufgaben machen. In Ihrer Welt lacht man über Väter, die über Laub oder Blutdruck nachdenken.
Wir regen uns jedenfalls über sehr unterschiedliche Dinge auf. Das wurde heute Morgen wieder deutlich, als sie ausnahmsweise einen Blick in meine Zeitung warf und die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate für verrückt erklärte.
Sie haben dort einen15jährigen Jungen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er ein 13jähriges Mädchen geküsst hat. Das fand Carla ganz ungeheuerlich. Ich nicht so. Die Gesetze werden schließlich auch in Abu Dhabi weitgehend von Vätern gemacht und dort greifen sie durch, wenn sich irgendwelche Aknepiraten an ihre Töchter wanzen. So. Ich sagte: „Wenn ich Dich mit so einem Pimpf erwische, verwandele ich mich in den arabischen Innenminister.“ Carla reagierte nicht wie erhofft mit grenzenloser Empörung. Zu meiner Überraschung gab sie mir einen Kuss und sagte: „Du bist echt süß.“ Dann schmierte sie sich Kajal unter die Augen und raste hinter dem Bus her. Ich muss mal meinen Blutdruck messen. Beidarmig natürlich.