254_In der Likörhölle
Sechzig ist das neue Dreißig. Habe ich gelesen. Das stand auf der Einladung zu einem sechzigsten Geburtstag, zu dem wir eingeladen waren. Ich las den Satz mehrfach und ich fürchte, dass er stimmt. Die Menschen altern nicht mehr widerstandslos. Sie bleiben jung und schreiben solche Texte auf ihre Einladungen, um die 30jährigen einzuschüchtern. Ich hatte sofort keine Lust, hinzugehen.
Als ich ein Junge war, da waren Sechzigjährige noch verlässlich alt. Wenn sie Geburtstag hatten gab es Donauwellen und Schnäpschen und man stellte beruhigt fest, dass man eindeutig und in jeder Hinsicht jünger wirkte als der Jubilar. Inzwischen werden die Menschen zwar immer älter, aber sie altern nicht mehr so richtig. Jedenfalls die 60jährigen. Dieter Bohlen ist so ein Fall. Er befindet sich in seinem 59. Lebensjahr und sieht aus, als würde er für seine Casting-Sendungen jede Woche aus dem Tiefkühlfach geholt und aufgetaut. Menschen wie er tragen zu bunte Turnschuhe, zu gemusterte Hemden und zu braune Haut. Das ist ein Sieg des Alters über die Jugend, und er schmeckt nicht nach Bepanten, sondern nach Beam Bull. Das ist Bourbon-Whisky mit Red Bull. Ein Getränk, mit dem man bis vor einigen Jahren noch Flecken aus Teppichen gerubbelt hätte.
Sara wollte unbedingt auf diese Geburtstagsfeier, denn sie ist Italienerin und die feiern selbst dann Geburtstagspartys wenn überhaupt niemand Geburtstag hat. Einfach nur so. Ich las die Rückseite der Einladung und stellte fest, dass es sich um eine Mottoparty handelte. Es wurde darum gebeten, im Look von 1982 zu erscheinen. Da war Gastgeber und Jubilar Klaus dreißig Jahre alt. Auf der Einladung befand sich zur Inspiration ein Foto. Klaus 1982. Er trug damals eine gestreifte Hose und einen topmodernen Lederblouson, wie man ihn Jahre danach nur noch an DDR-Bürgern in der Prager Botschaft sah.
Jetzt wollte ich erst Recht nicht hin. Ich finde Verkleiden doof, ganz ehrlich. Ich teilte Sara mit, dass ich auf keinen Fall mit einer Bundfaltenhose, einem gemusterten Hemd und einer schmalen Lederkrawatte sowie spitzen Schuhen vom Dachboden und auftoupierten Haaren zu Klaus fahren würde. Ganz sicher nicht! Dann zog ich die Bundfaltenhose, das Hemd, die Krawatte und die Schuhe an, richtete meine Frisur und wir fuhren zu Klaus.
Der trug zum Anlass seines sechzigsten Geburtstages einen rosa Zweireiher mit enormen Schulterpolstern und winkte an der Tür mit einem Drink, von dem ich im Laufe des Abends ungefähr drei Liter trank, um meine Bekleidungsscham zu betäuben. Das Getränk bestand aus einem blauen Likör, dem Orangensaft aus der Tüte hinzugefügt und der möglichst ungekühlt durch einen gebogenen Strohhalm eingenommen wurde.
Fünf Dutzend quietschvergnügte Sechzigjährige tobten durch Klausens Wohnzimmer und amüsierten sich mit Musik von Hubert Kah, Fräulein Menke, Extrabreit und UKW. Das Catering bestand aus Käseigeln – in den frühen Achtzigern ein Gipfel der Ironie – und Frikadellen. Klaus und seine Altersgenossen waren außer Rand und Band. Man kann derartige Situationen nur durch Anpassung überleben. Und „Herbergsvater“ von Joachim Witt ist ein sehr gutes Lied, wenn man genug von dem blauen Likör in den Adern hat.
Am nächsten Tag lag ich lange im Bett, ungefähr bis zum „Tatort“. Ich stellte mir meinen sechzigsten Geburtstag vor. Der findet 2027 statt, in fünfzehn Jahren. Wenn dann immer noch Sechzig das neue Dreißig ist, muss auf meiner Party Techno von 1997 laufen. Alle Sechzigjährigen trinken wie entfesselt Erdbeerlimes und zeigen sich ihre verschrumpelten Arschgeweihe. Dann präsentiert Julia ihr Tattoo. Sie hat sich 1997 eine riesige bunte Sonnenblume stechen lassen. Die Blüte befand sich auf der rechten Schulter, die grünen Blätter strahlten bis auf Rücken, Busen und Oberarm, der Stängel reichte bis zum Po. Ein monumentales Gemälde. An meinem 60. Geburtstag legt sie es frei und es ist ein symbolischer Akt, denn die Blume ist ganz eingefallen und welk. Aber jemand wird zum Trost Ecstasy dabei haben. Meine Kinder stehen fassungslos daneben und pumpen schon mal das Sauerstoffzelt auf, unter das ich muss, sobald die Gäste weg sind.