255_Fernweh-Lamento
Momentan bin ich auf Entzug. Auf Reiseentzug. Ab Mitte September fahre ich wieder kreuz und quer durch Deutschland, aber jetzt habe ich gerade andere Dinge zu tun. Und leide unter dem Nichtreisen. Ich weiß natürlich, dass sich dieser Zustand spätestens Ende Oktober auch wieder ins Gegenteil verkehrt: Dann will ich nur noch nach Hause. Was gefällt mir im Moment gerade am Reisen? Das aufregende Gefühl von Unzulänglichkeit sowohl bei mir als auch bei der Bahn, das Ausgeliefertsein, sogar die Langeweile.
Bei den sich im Laufe des Jahres zu Tagen summierenden Wartezeiten auf deutschen Bahnhöfen stellt sich augenblicklich Langeweile ein, weil die Bahn das Unterhaltungsangebot recht knapp hält. In den meisten Städten wanken nicht einmal mehr drogensüchtige Zombies über die Bahnsteige. Also verbringt man sehr viel Zeit in Bäckereifilialen. Die in Szenebezirken von Hamburg, Berlin oder München lebenden Opinion Leader können sich das jetzt nicht vorstellen, aber: Es existieren in Deutschland immer noch Versorgungslücken für künstlich parfümierte Kaffeespezialitäten. Aber sie werden kleiner. Zumindest auf Bahnhöfen haben Fulda, Schwäbisch-Gmünd und Siegen bereits mit dem Angebot in Köln oder Bremen gleichgezogen. Man bekommt auch in der Provinz zu einem Stück Industrie-Kuchen ein Getränk, welches offenbar mit Flüssigkeit aus dem Abklingbecken von Fukushima zubereitet wurde, 3000 Grad heiß ist und auch noch nach einer halben Stunde kleine Brühbläschen auf die Zunge schmurgelt. Erst wenn man längst damit im Zug sitzt, stellt man fest, dass es sich bei dem großen Becher „Flavored Latte“ in Wahrheit um eine Kombination aus sehr wenig schlechtem, weil unaromatischem Kaffee, sehr wenig schlechter, weil entrahmter H-Milch und sehr viel atompilzartigen Schaum handelt.
Im Zug sitze ich lieber im Abteil als im Großraumwagen. Ich habe mal von jemandem gelesen, der den Zustieg von anderen Passagieren in das von ihm besetzte Abteil mit einer aufwändigen Abschrecktaktik verhinderte, nämlich indem er sich wie ein Irrer am ganzen Körper kratzte, sobald der Zug hielt und die Platz suchenden Neuankömmlinge zu ihm hinein sahen. Das fand ich sehr komisch und ich denke, dass es gut funktioniert. Ich setze mich auch lieber zu versteinert arbeitenden Account Executives, die die ganze Fahrt über nur in ihren Rechner glotzen oder mit dem Kugelschreiber Randbemerkungen in Akten kritzeln. Solange sie dabei nicht telefonieren, finde ich monolithische Manager als Mitfahrer ideal. Wenn sie doch telefonieren und mich mit sterbenslangweiligen Berichten von der Außendienstfront peinigen bis ich mein Blut in den Ohren rauschen höre, muss ich Ruhe bewahren und meditieren.
Vor Jahren wehrte ich mich noch manchmal gegen das immer dumme und aufdringliche Geschwätz dieser Typen, indem ich mich daran beteiligte und unvermittelt brüllte: „Und warum soll bitte Langenfeld die EPK bei Schlitz implementieren? Das kann doch wohl genauso gut der Baumann machen! Der Minderleister, der Sesselfurzer.“ Oder ich rief: „Jaaa! Soooo kann man den schönen Betrieb natürlich auch runterwirtschaften.“ Im besten Fall stand mein Sitznachbar dann auf, verließ kopfschüttelnd das Abteil und kam zwischen Frankfurt und Mannheim auch nicht zurück. Im schlechtesten und häufigeren Fall sprach er dann einfach noch lauter. Also ließ ich diese Strategie fahren, man soll ja auch das Verhalten doofer Mitmenschen nicht durch eigenes doofes Verhalten aufwerten.
Das ist weise gesprochen, funktioniert aber nicht immer. Gerade auf Reisen verspüre ich häufig große Lust, mich an der Gesellschaft zu rächen. Wenn ich ein Hotel nicht mag, brauche ich das ganze Shampoo auf und zerwuschele im Doppelzimmer beide Betten. Und beim Frühstück esse ich extra viel vom teuersten Käse. Den Saft zapft man in den meisten Häusern aus riesigen Spendern in winzige Gläser. Die sind extra so klein, damit die Gäste nicht zu viel von dem teuren Nass entnehmen. Wenn ich das Hotel blöd finde, trinke ich einen Liter Grapefruit, nur um das Haus zu schädigen. Vielleicht fehlt mir das Reisen im Moment so sehr, weil ich einfach keinen Grund für schlechtes Benehmen habe. Ach, ich will weg.