256_Der Noro-Zombie
Eine bisher nicht diskutierte Folge der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht besteht darin, dass gewisse Initiationsriten unter jungen Männern jetzt nicht mehr in Kasernen stattfinden können. Zum Beispiel die spontane Magenentleerung. Sie gehörte bis vor wenigen Monaten zum Repertoire eines gelungenen Abends im Wachbataillon einfach dazu. Und nun muss dieser Ausdruck ungehemmter Lebensfreude eben anderswo erfolgen, zum Beispiel im Karneval. Unser Sohn Nick, auch wenn er mit seinen neun Jahren noch nicht wehrtauglich ist, hat sich jüngst exzessiv und folgenreich im Verkleidungsbusiness getummelt.
Am Montag entschied er, in dieser Session als Zombie zu gehen. Wir schnitten ihm alte Klamotten in Fetzen, schminkten ihm eine gelungene Verwesung in die linke Gesichtshälfte und die rechte dunkelgrün. Er übte, wie ein Zombie zu gehen, zog dafür das linke Bein nach und wir entließen ihn auf die Straße. Wir sahen noch, wie unser Walker – so nennen sie die ziellos vor sich hin schlurfenden Untoten in amerikanischen Filmen – die Nachbarin angrunzte und gegen mein Auto lief, dann verschwand er.
Nach einer Viertelstunde war er wieder da und beschwerte sich. Er habe mit Nachbarskindern mittels aufgespannter Luftschlangen eine Autosperre errichtet, um von den Vätern und Müttern der Gegend Kleingeld zu erpressen, aber die würden nur winkend durchfahren, keiner nehme sie ernst. Dann wackelte er wieder zu seinen Kumpanen. Ich habe nicht wirklich eine Meinung zu diesem Brauch, aber die Kinder taten mir leid. Also setzte ich mich ins Auto und fuhr zu ihrer Mautstation, damit wenigstens einer anhielt und Narrenzoll entrichtete. Als ich um die Ecke bog, sah ich zwölf Kinder am Straßenrand stehen und eines längs auf der Fahrbahn liegen. Das war mein Sohn, der Zombie. Man hatte ihn auf der Straße platziert, um die Autofahrer zum Halten zu zwingen. Er streckte die Arme nach oben und zitterte mit dem rechten Bein. Es sah gut aus, ich zahlte fünf Euro und verbot ihm unter Androhung lebenslangen Computerspielverbots die hochgefährliche Betätigung als Schranke.
Wenig später lief er abermals zuhause ein und brachte einen nicht näher spezifizierbaren Superhelden mit, der sich bei genauerem Hinsehen als Nachbarssohn Finn entpuppte. Die beiden aßen Nutellabrote, frischten ihre Gesichtsbemalungen auf und zogen dann weiter zu ihrem Kumpel Noah, bei dem eine Karnevalsparty steige, zu der sämtliche Kinder der Gegend eingeladen seien. Sogar Mädchen, wie unser Zombie mit Ekel in der Stimme festhielt.
Nick kehrte gegen 19 Uhr zurück und machte einen gelösten Eindruck. Wenig später übergab er sich ebenso unvermittelt wie vulkanös auf den Teppich. Wir schminkten ihn ab und brachten ihn ins Bett. Er war auch ohne Zombie-Maske grün und litt furchtbar, die ganze Nacht. Es ist erstaunlich, was aus so einem dünnen Knaben herauskommt, ohne dass man ihn erst schütteln muss. Als moderne Einwohner dieses Landes sind wir natürlich hysteriebegabt und tippten als Ursache sofort auf eine Gastroenteritis, vermutlich ausgelöst vom Norovirus, dem Hui Buh der Darmerkrankungen, von dem es schon seit Tagen hieß, dass er durchs Dorf geisterte. Ich besorgte Elektrolyte, die wir unserem Zombie einflößten, als er aufwachte. Erst am Dienstag Nachmittag ging es ihm besser, er knabberte blässlich an Zwieback herum und durfte Fernsehen, was ihm gut bekam.
Am Abend hatte er sich wieder stabilisiert und war sauer, einen kompletten Karnevalstag verloren zu haben. Da klingelte das Telefon. Noahs Mutter. Sie erkundigte sich, wie es Nick gehe. Wir schilderten seine Symptome und fragten, ob noch andere Kinder das Norovirus geplagt habe. Darauf sagte sie, davon könne gar keine Rede sein. Sie habe sich bloß Sorgen um unseren Nick gemacht, weil er es auf Noahs Party so massiv habe krachen lassen. Er sei wirklich nicht zu bremsen gewesen. Der Zombie habe ungelenk aber wild getanzt und dazu drei Krapfen, eine halbe Packung Schaumküsse, eine Tüte Chips, eine Tüte Haribo-Brombeeren und einen Liter Fanta verdrückt. Soso. Von wegen Norovirus.
Im Grunde war es bei Noah wie am Wochenende bei der Bundeswehr. Bloß ohne Dosenbier und Apfelkorn. Zum Glück.