Mein Leben als Mensch — 12.03.2012

258_ Wer reist, redet

Die zweitschlimmsten Menschen der Welt sind jene, die einen unverlangt mit frischen Reiseeindrücken quälen. Man war nicht dabei, was soll man also dazu sagen, wenn begeisterte Fjord-Fahrer, die meistens auch zuhause in Funktionswäsche rumlaufen, von ins Meer brechenden Schneehaufen berichten. Ja, das muss sehr beeindruckend sein. Die Schilderungen sind es jedenfalls nie. Das sind also die zweitschlimmsten Menschen der Welt. Die erstschlimmsten sind jene, die meine Lieblings-Hass-Formulierung verwenden.
Es handelt sich dabei um die grauenhafte Wendung „die neunzehnhundertfünfziger Jahre“ in all ihren Varianten. Das ist schlimmster Kuratorenquark, Wortgewölle. Neulich las ich zum Beispiel im Feuilleton einen Artikel, in dem es um den österreichischen Heimatfilm der fünfziger Jahre ging, aber der Autor schrieb vom „österreichischen Heimatfilm der neunzehnhundertfünfziger Jahre.“ Die miese Kultur-Schmierlaus. Worum sollte es denn sonst gehen? Um den österreichischen Heimatfilm des sechzehnten Jahrhunderts? Ein Karusselbremser auf der Kirmes der Kulturberichterstattung.
Jedenfalls hatte ich jüngst eine Begegnung, die mein Gemüt zur Kernschmelze brachte, weil mir dabei der schlimmste und der zweitschlimmste Mensch der Welt in einer Person erschien. Vielleicht habe ich schon mal von ihm erzählt. Ulrich Dattelmann heißt er. Er duzt mich, ich sieze ihn. Er ist Vorsitzender der Schulpflegschaft und hat die anderen Eltern dazu aufgestachelt, mich zum Schriftführer der Pflegschaftsabende zu wählen. Das bedeutet, dass ich da immer hin muss, um mitzuschreiben. Das ist eine große psychische Last für mich: Annegret stellt den Antrag, dass Kinder mit Kopfläusen nicht diskriminiert werden dürfen und man zukünftig deshalb nicht mehr „Kopflaus“ sagen darf, sondern nur noch „Saugetierchen.“ (Antrag bei einer Gegenstimme – meiner – angenommen). Alles muss ich aufschreiben. Dattelmann will es so.
Letzte Woche hatte ich bereits den Stift zugeschraubt, als Dattelmann den Abend überraschenderweise um eine Diashow verlängerte. Eigentlich wollte er nur seinen Taschenbeamer demonstrieren und zeigte uns eingeschüchterten Geiseln der Schulpflegschaft 749 Bilder seiner letzten Reise nach New York, die er mit dem Minibeamer an die Wand des Klassenzimmers warf. Niemand traute sich zu gehen, denn Dattelmann ist der Chef. Wenn man früher geht, kann man sich darauf gefasst machen, dass er einem bei der nächsten Nachtwanderung vom Zeltlager fünf Stunden lang erzählt, wie er in Australien am Fuße des Ayers Rock per Kaiserschnitt zwei Kängurus entbunden hat.
Dattelmann zeigte also seine Lieblingsplätze im Big Apple. Jede Bildbeschreibung begann mit den Worten „Und das bin ich.“ Und das bin ich auf der Brooklyn Bridge. Und das bin ich vor dem Dakota Building. Und das bin ich am Times Square. Und das bin ich in Bedford Styvesant vor einem braunen Haus. Und das bin ich vor einem Hotdog-Stand. Und das bin ich im Madison Square Garden. Meine Augen wurden schwer, zumal er jede Bildbeschreibung abschloss mit: „Das kann man natürlich nur live in New York nachempfinden.“ Große Müdigkeit. Leider schlief ich nicht ein. Leider hörte ich noch, wie er sagte: „Und das bin ich im Meatpacking District. Hier gab es mal 300 Schlachtbetriebe. Das war in den Neunzehnhundertzwanziger Jahren.“
Im Affekt riss ich mich vom Stühlchen meines Sohnes hoch und stürzte zur Tür. „Was ist denn?“ fragte Dattelmann irritiert. „Und das bin ich, wie ich abhaue“, rief ich und war weg. Riesiger Fehler natürlich. Heute Mittag kam eine Mail. Dattelmann. Er kündigte das diesjährige Zeltlager im Mai an. Er schrieb, dass er natürlich wieder mit der Gitarre Moritaten aus den achtzehnhundertfünfziger Jahren zum Besten gebe. Am meisten freue er sich aber auf die guten Gespräche bei der Nachtwanderung. Man habe sich am Ende der Sitzung darauf geeinigt, dass der liebe Schriftführer ihn begleiten werde. Ich konnte nichts dagegen unternehmen, denn da war ich schon weg. Ich fürchte, aus der Nummer komme ich nicht mehr raus.

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