Mein Leben als Mensch — 02.04.2012

261_Schlau oder schön

Bisher habe ich mich erfolgreich um einen Intelligenztest gedrückt. Zwar hätte mich durchaus interessiert, ob ich etwas – und wenn ja – wie viel ich hirntechnisch hermache, aber andererseits putzt sich das Klo ja auch dann nicht von alleine, wenn man hochbegabt ist. Und falls man bei so einem Test feststellt, dass man doof ist wie Zuckerwatte, macht es auch keine gute Laune. Außerdem: Ich bin zum Glück Brillenträger, die gelten automatisch als schlau und das reichte mir bislang vollkommen fürs Selbstwertgefühl.
Bereits als kleiner Junge galt ich als universell talentiert, weil ich früh eine Brille erhielt. In Wahrheit war ich aber gar nicht so klug. Im Gegenteil, ich war sogar dümmer als die meisten Kinder in meiner Klasse. Ich konnte ja nicht lesen, was die Lehrerin an die Tafel schrieb. Das verunsicherte mich und ich verschwieg meine aufkeimende Sehbehinderung wochenlang, was dazu führte, dass ich Einiges nicht mitbekam. Ich beklage bis heute Defizite sowohl in der schriftlichen Multiplikation als auch beim Sachkundethema „Der Igel“ sowie bei allen Substantiven mit „M“. Allerdings besitze ich die Fertigkeit, fehlenden Intellekt mit schlauem Durch-die-Brille-Gucken auszugleichen. Und darauf kommt es an im Leben; Philipp Rösler macht es genau so und er hat es damit weit gebracht – für seine Verhältnisse.
Ich war solchen Tests also jedenfalls abhold. Da ich nun jedoch beruflich dazu verpflichtet bin, für Sie wöchentlich etwas zu erleben, habe ich mich gestern nach reiflicher Überlegung einem Intelligenztest unterzogen. Online. Man benötigt dazu eine ruhige Sitzposition, eine gut funktionierende Maus und eine Stunde Zeit. Um es gleich zu sagen: das Ergebnis und dessen Erkenntnisgewinn waren niederschmetternd. Dabei ging es eigentlich ganz gut los. Zum Auftakt musste ich Analogien bilden. Das ist einfach, das kenne ich von der Arbeit: Schwanz verhält sich zu Hund wie Auspuff zu Auto. Torte verhält sich zu Käsebrötchen wie Merkel zu Rösler. Analogie verhält sich zu Autor wie Tulpenzwiebel zu Gärtner. Ich absolvierte diesen ersten Aufgabenblock ohne nachzudenken und wenn der Test dort beendet gewesen wäre, könnte ich Ihnen jetzt als Genie entgegentreten.
Dann sollte ich Formen vergleichen. Welches Ding gehört nicht zu den anderen? Wie in der Sesamstraße. Ich lag zunächst fünf Mal richtig, anschließend nur noch falsch, zumal ich begann, die Ergebnisse zu raten. Anschließend rechnen. Ich würde sagen, dass ich unter einer milden Form von Dyskalkulie leide. Eigentlich beherrsche ich nur den kleinen Zahlenraum, innerhalb dessen man ein Skatblatt kalkuliert. Und ich bewältige ausschließlich Sudokus, bei denen 90 von 99 Feldern bereits ausgefüllt sind. Überraschenderweise schaffte ich dennoch 16 von 19 Aufgaben, um dann über einen fintenreichen Dreisatz mit einstelligen Zahlen zu stolpern. In Block vier sollte ich schwarzweiße Gestalten um je ein Element ergänzen. Nachdem ich das Zeitkontingent von 300 Sekunden bereits erfolglos für die erste von zehn Aufgaben erschöpft hatte, brach ich das Experiment Intelligenztest ab. Ich dachte: „IQ-Test verhält sich zu mir wie FC Barcelona zu Wacker Burghausen.“ Ich beschloss umgehend, mir eine neue Brille zu kaufen, um meine Unzulänglichkeit frisch zu übertünchen.
Der Optiker erzählte mir, dass er noch nie so viele Brillen mit Fensterglas verkauft habe wie im Moment. Normalsichtige seien ganz wild auf so genannte Nerdbrillen. Das sind diese großen schwarzen Dinger, die Woody Allen schon vor vierzig Jahren getragen hat. Die Leute wollen damit aber nicht schlau aussehen, sondern gut. Sie betrachten Brillen als Mode-Accesoires. Das finde ich ungeheuerlich. Es handelt sich bei einer Brille immerhin um eine Prothese, mit der eine körperliche Schwäche ausgeglichen wird. Man trägt ja schließlich auch kein Holzbein, um schick auszusehen.
Als ich nach Hause kam teilte mir mein Sohn mit, dass er wohl eine Brille brauche. Er könne in der Schule häufiger nicht erkennen, was an der Tafel stehe. Dann sah er die ausgedruckten Aufgaben meines IQ-Tests und zeigte mir, wie die Rechenaufgaben funktionierten. Es könnte sein, dass ich Zeuge eines Evolutionssprunges geworden bin. Brille und gut in Mathe. Das gab es bisher bei uns nicht. Es ist noch Hoffnung für die Menschheit.

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