Mein Leben als Mensch — 04.06.2012

270_Die Käferkrise

Meine in den ersten Jahren erschütternd erfolglose Karriere als Frauenversteher begann ungefähr im Juni 1976, als ich im Kunstunterricht feststellte, dass die von mir angebetete Sonja keine Nasen malen konnte. Ich befand mich in der zweiten Klasse der Grundschule und fand ihre Nasen doof. Erschreckend uninspiriert, zu groß, einfach hässlich. Ich konnte aber durchaus zwischen ihrem Nasenmaltalent und ihrer Person trennen – und die Person fand ich entzückend. Ich dachte darüber nach, ob ich ihr meine Hilfe anbieten sollte, denn ich war (und ich bin) ein hervorragender Zeichner von anatomisch und ästhetisch sehr ansprechenden Nasen. Gegen Kontaktaufnahme sprach, dass ich vermutlich von meinen Freunden in der Pause, im Sportunterricht, auf dem Heimweg und auf dem Spielplatz gehänselt werden würde, wenn sie mitbekamen, dass ich einem Mädchen freundlich gesinnt, mehr noch, mit einem solchen in zarter Konversation war. Für einen Kontaktversuch sprach Sonjas Schönheit. Und nett war sie, soweit ich das beurteilen konnte.
Zwei Tage später entschied ich mich dazu, sie anzusprechen. Die Gelegenheit war günstig, weil zwei von meinen Freunden die Windpocken hatten und fehlten. Der dritte war beim Hausmeister, um eine Glühbirne zu holen und der vierte hatte am Vortag das linke Glas seiner Brille abgeklebt bekommen, weil er schielte. Ich nahm an, dass er nur die Hälfte sah und deshalb womöglich die Seite der Klasse, auf der Sonja saß und malte, gar nicht erkennen konnte. Ich ging zu Sonja und sagte: „Ich könnte Deine Nasen malen.“ Sie fragte: „Warum?“ Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich antwortete daher unbesonnen: „Weil Deine Nasen Mist sind. Guck sie Dir doch mal an, Deine Nasen. Hier: Die Prinzessin. Was hat die denn im Gesicht? Eine Gurke?“ Sonja beendete sofort die Beziehung, die ich etwas ruckartig hatte beginnen wollen. Meine Stimme war wohl zu laut. Aber meine Absichten waren lauter.
Ich dachte an diese glücklose Episode, weil Nick etwas niedergeschlagen nach Hause kam und von dem Ende der Partnerschaft mit seiner Freundin Franziska berichtete. Heute kann man mit Neun eine Freundin haben, ohne dafür mit Hagebuttennüsschen den Nacken eingerieben zu bekommen. Es sei Schluss, klagte er. „Wahrscheinlich war es nur ein kleiner Streit,“ sagte ich. „Das renkt sich morgen wieder ein.“
Darauf erklärte er mir, dass es keineswegs um eine Kleinigkeit gegangen sei, sondern um Fragen der Einstellung zum Leben. „Mit jemand wie Franzi kann ich nicht zusammen sein,“ sagte er ganz ernst. Dabei hatte sie die Beziehung beendet. Wie das denn gekommen sei, fragte ich. Nick setzte sich auf meine Tastatur und erzählte, wie sie in der Pause einen toten Marienkäfer gefunden hätten. Mit eingeklappten Beinchen. Ein Flügel sei zudem nicht ordentlich eingefaltet gewesen. Der Befund sei ihnen nicht schwer gefallen. Nick habe sodann den Käfer in die Hand genommen, um ihm ein Grab zu buddeln. Dann habe Franziska den Käfer einmal halten wollen und er habe ihn ihr auch gegeben. Hier änderte sich Nicks Tonlage, er klang nun empört. Jedenfalls habe Franziska während er ein Grab buddelte, hinter seinem Rücken zunächst versucht, den toten Käfer in die Venusfliegenfalle zu werfen. Als sich die Venusfliegenfalle nicht gerührt habe, weil sie noch mit dem Verzehr eines Streichholzkopfes beschäftigt gewesen sei, da habe Franziska den toten und von Nick Norbert getauften Marienkäfer der Schulkatze gegeben. Er habe sich umgedreht und gerade noch gesehen, wie die Katze mit der rechten Pfote auf Norbert rumgetrampelt sei. Da habe er Franziska geschubst und mit ihr geschimpft und sogar beinahe geweint. Franziska habe daraufhin Schluss gemacht. Tja. So kann’s gehen.
Ich tröstete ihn mit der Feststellung, dass Franziska wahrscheinlich einfach nicht die Richtige für ihn war. Wer weiß, vielleicht wird sie später mal Tierversuchslaborantin. Das Zeug dazu hätte sie.
Das machte mich neugierig und ich suchte im Internet nach Sonja. Ich habe sie auch gefunden. Sie ist heute Personalchefin. Wenn ihr die Nase eines Bewerbers nicht gefällt, bekommt der keinen Job. Die Saat für diese Karriere habe ich ausgebracht. Ganz sicher sogar.

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