Mein Leben als Mensch — 11.06.2012

271_Schweiniwade

Bastian Schweinsteiger hat zumindest ein faszinierendes Bein. In einer Zeitschrift sah ich ein Bild davon. Eigentlich sah ich ein Bild von Schweinsteiger und seiner Model-Freundin. Die beiden lagen nebeneinander auf Liegestühlen und lasen Zeitschriften. Der unter dem drastisch verkürzten Namen Schweini bekanntgewordene Mittelfeldspieler des FC Bayern nippte an etwas, das aussah wie harmloser Eiskaffeespaß oder White Russian. Das ist jener teuflische Drink, den der Lebenskünstler Jeffrey Lebowski in dem Film „The Big Lebowski“ literweise verzehrt. Auch an dem Bild aus dem Schweinsteigerschen Urlaub sah etwas nach Kunst aus, nämlich die Wade des Rekonvaleszenten. Sie war mit einem rosafarbenen Riesenpflaster umklebt. Es soll den Schmerz wegwärmen, las ich in der Bildunterschrift. Welchen Schmerz? Den in der Wadenmuskulatur oder jenen, den der unglückliche Schütze nach dem verschossenen Elfmeter gegen Chelsea verspürt haben wird? Das wäre eine Behandlungstaktik, die ich noch aus meiner Kindheit kenne. Meine Mutter klebte häufig Pflaster auf Wunden, die gar nicht hätten versorgt werden müssen. Aber das Pflaster tat gut, es war mehr ein Seelenpflaster. Vielleicht war das da an Schweinis Wade auch ein Seelenpflaster, aufgeklebt von Jogi Löw, dem durchaus zum mütterlichen tendierenden Trainer der Nationalmannschaft.
Jedenfalls fand ich das rosa Pflaster sehr künstlerisch, es verlieh dem kranken Bein etwas Skulpturales. Ich finde überhaupt, dass Fußball Kunst ist. Ein großes Match gleicht für mich einem Schlachtengemälde aus dem 19. Jahrhundert. Und erschaffen nicht die großen Fußballer in ihren besten Momenten mit ihren Pässen, Flanken, Finten, Tricks und Torschüssen kleine Meisterwerke? Das qualifiziert Lionel Messi, Mesut Özil und Wayne Rooney fürs Museum. Leider haben das aber bisher fast nur die Sponsoren des Fußballs erkannt, die ihre Helden wie griechische Götter überlebensgroß auf Plakate drucken. Besonders eindrucksvoll geriet in diesem Zusammenhang vor sechs Jahren das Abbild Oliver Kahns, der riesenhaft über die Zubringerautobahn vor dem Münchner Flughafen hechtete.
Wenn man von der werblichen Gebrauchskunst absieht, spielt der Fußball in der Kunst eine untergeordnete Rolle. Nur einmal ist er mir ziemlich aufgefallen. Das war bei der letzten Documenta. 2007.
Ich fuhr nach Kassel, um mir die Weltleistungsschau der Kunstszene anzusehen, aber das meiste sagte mir nichts. Daran änderten die Erklärungen im Katalog wenig. Da standen Sätze drin wie: „Beide Künstlerinnen lenkten die Aufmerksamkeit auf die Immanenz der Freiheit als einer organischen Kraft, die ein integraler Bestandteil unseres Seins ist.“ Und etwas über „aktivistische Energie, die ehemals der Bewusstseinsschaffung galt, als breit angelegtes Selbstverständnis einen neuen Ausdruck findet.“ Ich gebe zu, dass ich für solche Texte zu doof bin. Ich peitschte mich selbst aus mit der stundenlangen Lektüre des Katalogs und sehnte mich nach irgendeiner Kunst, die mich nicht verachtet. Und dann betrat ich einen Raum mit einer Medieninstallation von Harun Farocki.
Der Filmemacher zeigte auf 12 Bildschirmen das Endspiel der Weltmeisterschaft von 2006 aus unterschiedlichen Perspektiven und in verschiedenen Darstellungsformen. Parallel sah man das Spiel im Fernsehbild, in einer Computeranimation, mit sich bewegenden Pfeilen anstelle der Spieler. Man konnte auch die untergehende Sonne über Berlin anschauen oder Diagramme über die Leistungskurven der Spieler. Dazu gab es den parallel aufgezeichneten Polizeifunk zu hören und Anweisungen aus der Senderegie des Fernsehens. Ein faszinierendes und dramatisches Gebilde, ein riesenhaftes künstlerisches Monument von über zwei Stunden Spieldauer. Ich setzte mich auf eine Bank und sah es mir vollständig an. Alle anderen Arbeiten der Documenta habe ich bald nach dem Besuch in Kassel vergessen, aber „Deep Play“ werde ich immer in Erinnerung behalten. Auch in diesem Jahr fahre ich zur Documenta. Aber vorher sehe ich mir die EM an. Vielleicht spielt Schweinsteiger ja mit seinem rosa Bein. Und irgendein Künstler macht etwas Gescheites daraus.

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