275_Stangenfieber
Skandal im Deutschunterricht. Natürlich wurde sofort ein Elternabend einberufen, um die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Ich war auch da. Was war passiert? Das fragten auch einige Eltern zu Beginn der Veranstaltung und deshalb erläuterte die Lehrerin Frau Blum den Sachverhalt. Und zwar habe sie die Idee gehabt, die pubertierende Klasse Gedichte schreiben zu lassen und die Jugendlichen ermutigt, ihren romantischen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Am Dienstag habe sie dann darum gebeten, dass die in Heimarbeit angefertigten Ergebnisse reihum vorgetragen werden sollten, damit man anschließend darüber diskutieren konnte. Es seien ganz erbauliche Leistungen dabei gewesen, wenn auch nur von den Mädchen. Die Jungen hätten sich gedrückt oder im Internet „romantische Gedichte“ gegoogelt, etwas von Heine oder Rilke kopiert und als eigene Werke ausgegeben. Dann sei Daniel dran gewesen. Und wegen seines Gedichtes seien wir nun hier. Seinen Dreizeiler hatte ein Mädchen zuhause rezitiert und ihre Eltern waren Minuten später in der Schule vorstellig geworden. Sie verlangten, Daniel vom Gymnasium zu schmeißen. Daniel und seine Eltern saßen ganz außen. Er tat mir leid.
Ein Vater fragte, ob man das Gedicht mal hören könne, dessen Ungeheuerlichkeit sich sonst nur ganz schwer beurteilen ließe. Frau Blum weigerte sich aber es vorzulesen. Also wurde das Poem mit dem Titel „Stangenfieber“ von Herrn Kohlschein vorgetragen. Der ist Arzt und ich vermute, dass er keine große Übung im Vortragen von Lyrik hat. Man hätte es auch schöner lesen können. Er trug es mit geringer Emphase vor, etwa so: „Rosen sind Titten. Veilchen sind Titten. Ich mag Titten. Titten.“
Als der Orthopäde geendet und sich wieder hingesetzt hatte, machte sich die Hälfte der anwesenden Frauen Gedanken über ihn. Die anderen ließen ihrer Empörung freien Lauf. Das sei impertinent, sexistisch, frauenverachtend, blöd, besäße keinerlei Charme und sei regelrecht krank, urteilten die ersten Redner. Daniel und seine Eltern sagten nichts. Dann dozierte Herr Kohlschein, dieses Gedicht sei ein Werk der „Generation Porno.“ Den Begriff habe er im „Stern“ gelesen, fügte er stolz hinzu. Das sei widerlich und Ausdruck einer vollkommenen kulturellen Verrohung. Man müsse sich mit aller Macht gegen diesen Dreck stemmen.
Dann wurde ich gefragt, was ich von diesem Werk hielte. Ich? Ja. Nun. Als Schriftsteller müsse ich doch eine Meinung haben, forderte Herr Kohlschein. Da ist was dran. Aber leider bin ich ganz schlecht in Lyrik. Ich habe die letzten Würfe von Günter Grass nicht einmal als Gedichte identifiziert. Ich dachte erst, es handelte sich dabei um halbdurchdachte Prosa mit unglücklichen Zeilenumbrüchen. Aber ich bin ja auch kein Literaturkritiker. Sollen die sich den Kopf darüber zerbrechen, was ein Gedicht ist. Und ob es was taugt.
Die Qualität der von Daniel mit erster Tinte zuwege gebrachten Ergüsse kann ich nicht beurteilen. Seinen Mut aber schon. Ich sagte: „Der Rhythmus ist schön, ich finde es lustig und ehrlich und unkitschig. Etwas Anderes will ich persönlich von einem 15jährigen Jungen nicht lesen. Ich wünschte, ich hätte mit 15 die Courage besessen, so etwas zu schreiben. Gefühlt habe ich es auf jeden Fall.“
Da stand Kohlschein auf und rief: „Pui Deibel.“ Dann verließ er den Klassenraum. Es folgte eine zweistündige Diskussion, die darin mündete, dass sämtliche Eltern sich gegenseitig erzählten, was sie sich alles mit fünfzehn Jahren nicht getraut, was sie versäumt oder im Erwachsenenleben vergessen haben. Die Angelegenheit endete mit einem glatten Freispruch. Einige Eltern gingen noch in eine Kneipe, um sich weiter auszutauschen.
Ich klopfte Daniel auf die Schulter. Da sagte er: „Wenn Ihnen das so gut gefallen hat: Da wo das herkommt, da ist noch mehr. Ich habe noch ganz andere Sachen in der Schublade. Wenn Sie wollen, kann ich es ihnen mal mailen.“ Ich bedankte mich und sagte, dass ich mich melden würde, wenn mir nach einem Gedicht von ihm wäre. Dann fuhr ich nach Hause. Ich weiß nicht warum, aber ich musste die ganze Zeit wahnsinnig laut grinsen.