277_Total verstrahlt
Prinzipiell habe ich nichts gegen Funkmasten. Naja, wahrscheinlich wäre es klug, sie ausschließlich an Orten aufzustellen, wo sie nicht stören. Das hätte bloß den Nachteil, dass sie dort, also zum Beispiel im Atlantik, wenig zur Qualität des Mobilfunks in Oberbayern beitragen würden. Man ahnt es schon: Hier muss man womöglich Kompromisse machen. Ich hätte am Ende dann gerne ein sehr gutes Funknetz, aber bitte ohne hässliche Masten und gefährliche Strahlung. Das wird doch möglich sein in einer Welt, in der Mayo und Ketchup aus einer Tube kommen. Oder? Liebe deutsche Fernmeldeindustrie. Tut endlich was, damit ich nicht auf solche Vorträge muss wie neulich Abend.
Ich hockte zwischen Sara und meinem Schwager Jürgen. Er ist Mitglied in esoterischen Zirkeln, kokelt zuhause getrockneten Kuhmist an, massiert seine Frau mit Daumensteinen und atmete beim Vortrag von Dr. Karg stoßweise durch die Nase. Ich las währenddessen das Programmheft. Daraus ging hervor, dass Dr. Karg in Naturstromerkennung promoviert hat, und zwar an der Univ. Brtsl. in der Stadt Crzyrsk in einem Land namens Digestiban. Anschließend lehrte er an einer Hochschule in Abchasien sowie in einem sauerländischen Seminarzentrum. Doktor Karg schimpfte furchtbar auf Handystrahlen. Und auf Besitzer von W-LAN-Geräten. Herr Karg verlangte, dass man W-LAN-Router nach dem Empfang einer E-Mail ausschalten müsse. Wenn man die Antwort verfasst habe, dürfe man sie kurz einschalten, um sie gleich nach dem Versenden abermals auszuschalten. Er betrachtet Menschen, die den ganzen Tag via W-LAN online sind als Mörder. Dasselbe gilt für Besitzer von Mikrowellen. Ich bin also sozusagen Doppelmörder.
Jürgen nickte wie ein Wackeldackel, ich schwankte zwischen Trotz und Schuldgefühl. Letztlich überwog mein innerer Widerstand, denn Dr. Karg sah beim Reden ständig meine Frau an als sei er ein Hungerkünstler und Sara eine Bratwurst. Karg donnerte, dass wir uns längst als ferngesteuerte Konsumtrottel in der Hand finsterer Mächte befänden, weil in unseren Hirnen eine magnetosome Ursuppe koche, deren Spannung von der Industrie mittels Strahlung aufrecht erhalten werde. Soso. Wir sollen immer mehr kaufen und dies immer unkritischer. Dr. Karg forderte uns auf, diese Strahlungen zu unterbrechen. Dafür habe er einige Erfindungen gemacht und auch beim Patentamt in Feuerland geschützt. Er führte eine Schnalle vor, die man im Schlaf um die Schläfen schnallt und so die feindliche Übernahme des Gehirns durch Amazon und Facebook unterbindet. Die Schnalle konnte man am Ende für nur 160 Euro bei ihm kaufen.
Und er präsentierte – quasi als Höhepunkt seiner schamanischen Darbietung – ein Kombigerät, mit dem man sich zuhause auf die Suche nach gefährlichen Schwingungen und anderen unheilvollen Erscheinungen machen kann. Er nannte ganz konkret den Einsatz gegen Erdstrahlen, planetarische Anomalien, Erdverwerfungen, Lichtsmog, Radioaktivität, Radon, magnetische Felder und so genannte Curry-Linien, die mir besonders gut gefielen. Zudem eignet sich sein Apparat zum Aufspüren von Wasseradern und Gold.
Wenn Doktor Karg wenigstens einen Flux-Kompensator für Zeitreisen dabei gehabt hätte. Aber nein. Ich hinderte meine Frau daran, diesen dubiosen Kombinations-Strahlungssucher zu kaufen. Jürgen erwarb aber natürlich einen. Er kostete kaum 1000 Euro und versetzte Jürgen in einen Glückstaumel, wie ich ihn das letzte Mal bei unserem Sohn nach dem Genuss eines achtzig Zentimeter hohen Berges Zuckerwatte gesehen habe. Auf dem Weg nach Hause fehlte mir die Kraft zu der Feststellung, dass der einzige Verbrecher, der Jürgens Hirn mit dem Wunsch nach sinnlosen Anschaffungen verstrahlt hat, dieser Dr. Karg ist. Ich wollte Jürgen nicht die Freude verderben. Er war so glücklich und er ist es noch, denn er hat in unserem Garten Curry-Strahlen entdeckt. Und Metall – auch wenn es sich dabei nur um ein im April übersehenes und in Alufolie gewickeltes Osterei handelt. Jürgen hätte auch gerne noch die Schläfenschnalle gekauft, aber die war schon alle, als er an der Reihe war. Ist aber nicht schlimm, denn die Sachen von Dr. Karg, die gibt es natürlich auch online.