278_Famose Dose
Hunger. Ich stehe vor dem Kühlschrank wie ein Bär vorm Bienenstock. Während der mehr oder weniger gemeine Ursus jedoch zuverlässig genau das im Bienenbau findet, was er gerne mag, präsentiert sich mir eine Leistungsschau des Nichts. Was ich mag, wird nicht mehr gekauft. Zu ungesund. Nicht mehr im Plan. Schlechtes Beispiel für die Kinder. Vor zwanzig Jahren war das mit der Ernährung bei mir viel einfacher. Man machte sich eine Dose Ravioli auf und löffelte den Büchsenmampf kalt und unzerkaut direkt in den Schlund. Oder man bereitete sich sechs Rühreier mit Käsewürfeln und Tabasco zu. Oder man fertigte aus Zwiebeln, Ketchup und Bifi eine für Stunden sich immer wieder ins Geschmackszentrum zurückdrängelnde Nudelsauce an. Das geht heute alles nicht mehr.
Wir leben wahnsinnig gesund. Der in verzinktem Blech wie Mörsermunition eingeschweißte Bohneneintopf „Feuerzauber Texas“ ist seit Jahren der wöchentlichen Lieferung einer Gemüsekiste vom Biobauern gewichen. Da ist immer Pastinake drin. Was soll ich mit Pastinake? Was soll überhaupt irgendwer mit Pastinake? Was ist das überhaupt? Klingt nach russischer Literatur oder einer religiösen Sekte. Tut mir leid, ich trinke keinen Alkohol, ich bin nämlich Pastinake. Oder so.
Wie dem auch sei: Der Kühlschrank ist mit Dingen gefüllt, die mein Körper jetzt nicht braucht. Nur eine einzige Bewohnerin des Kühlschranks singt nicht mit in diesem Fischer-Chor aus Vitaminen, Spurenelementen und Ballaststoffen. Sie ist blassgrün, besitzt einen weißen Deckel und sie steht im unteren Fach über der Gemüseschublade. Eine Tupperdose.
Die steht schon eine ganze Weile dort, ich glaube seit drei Wochen. Oder seit drei Jahren. Ich habe mich so sehr an ihren Anblick gewöhnt, dass ich mich kaum daran erinnern kann, dass sie einmal nicht da war. Ich könnte sie öffnen und nachsehen, was drin ist. Aber ich traue mich nicht. Ich vermute darin etwas, dass aussieht wie eine sehr große Portion Roquefort-Käse oder ein mumifiziertes Nudelgericht. Oder Obstsalat, den ich letzten Sommer zubereitet habe. Oder Higgs-Teilchen mit Curryreis. So blassgrün wie die Dose aussieht, könnten auch Büffelmozzarella-Bällchen darin schwimmen, eingelegt in Salzwasser aus dem Abklingbecken von Fukushima.
Oder wir haben im Wege der Kühlschrank-Fermentierung von Wokgemüse eine bisher unbekannte Sporensorte gezüchtet. Wenn ich den Deckel abhebe, könnten die Woksporen entweichen und innerhalb von wenigen Minuten das ganze Dorf kontaminieren – und eine kleine Gemeinde in Oberbayern wäre über Jahrzehnte unbewohnbar.
Nachdem sich die giftgrüne Wokwolke in unserer Straße ausgebreitet und dort alles Leben ausgelöscht hat, kommt das Technische Hilfswerk in gelben Anzügen und stülpt ein riesiges Zelt über unser Haus. Ich lebe noch, stehe am Fenster und rufe: „Es war das Wokgemüse. Es tut mir leid. Holt mich nicht raus, ich habe den Tod verdient. Außerdem bin ich Pastinake.“ Die Filmrechte am Inhalt meiner Tupperdose vermache ich hiermit meinen Kindern, die sie an Steven Spielberg verkaufen sollen.
Am besten wäre es, ich ließe die Tupperdose einfach zu und stehen wo sie steht. Sie steht gut da. Andererseits habe ich wirklich großen Hunger. Und es könnte ja sein, dass sich etwas darin befindet, dass erst nach Monaten richtig gut riecht und schmeckt. Irgendwas, dessen Existenz ich mir zwar nicht vorstellen kann, dass mich aber neugierig macht. Und: wenn ich das Tupperding jetzt nicht öffne, wird die Welt niemals erfahren, was sich unter dem Deckel befindet. Also los, Junge: reiß den Deckel ab! Ich ziehe dafür einen Grillhandschuh an, denn es könnte ja auch eine Lebensform darin sein, die mir sofort die Hand abbeißt, wenn Luft zu ihr hineinströmt.
Die Dose ist sehr leicht. Gut, das bedeutet ja erst einmal nicht viel. Ein Trüffel wiegt ja auch fast nichts und wird gerne in Plastikdosen aufbewahrt. Augen und Nase zu, ratsch. Deckel auf. Und? Was ist drin? Ich riskiere einen Blick. Die Dose ist leer. Wer bitte stellt monatelang eine leere Tupperdose in den Kühlschrank? Ich bin ratlos. Und Hunger habe ich auch.