Mein Leben als Mensch — 24.09.2012

286_Schwulitäten

Unser Sohn hat im Bücherregal ein Comicbuch gefunden, das er vorgestern hochinteressiert studierte, als ich nach Hause kam. Er ist neun Jahre alt, da liest man Comics. Asterix, Lucky Luke, Isnogud, Tim und Struppi. Haben wir alles da. Sowas liest man mit neun. Aber doch nicht Schwulencomics von Ralf König. „Zitronenröllchen“ heißt das Werk. Es ist schon ziemlich alt, ich bekam es mal von irgendwem zum Geburtstag. Der Band widmet sich ausführlich dem Leben und dem Liebesleid in der schwulen Subkultur. Als ich bemerkte, dass sich Nick eingehend damit befasste, nahm ich ihm das Album weg.
Er ist aufgeklärt und das Buch ist lustig, aber man muss mit Neun nicht unbedingt in die Gedankenwelt von Lederschwulen eingeweiht werden, die bei Ralf König immer aussehen wie der Bauarbeiter und der Motorradfahrer von den Village People. Als die in meine Welt traten, war ich wenig älter als Nick jetzt. Ich nahm damals an, dass die Village People irgendwas mit Karneval zu tun haben müssten, denn ich komme aus Düsseldorf, da ist so ein Aufzug nichts Ungewöhnliches. Damals gab es zudem noch keine Comics von Ralf König. Homosexualität existierte damals praktisch noch gar nicht – jedenfalls nicht im Wahrnehmungsumfeld eines Viertklässlers.
Ich wurde mit dem Thema überhaupt erst zehn Jahre später konfrontiert, als ich mit einem Freund einen Campingurlaub in Viareggio an der toskanischen Küste absolvierte. Sämtliche Plätze dort waren ausgebucht, aber dann fanden wir noch einen, auf dem wir unser Zelt aufschlagen konnten. Dort waren überhaupt keine Familien und auch keine Frauen. Die zehn gutgebauten Holländer auf der Nachbarparzelle hielt ich trotzdem zunächst tagelang für eine Volleyball-Mannschaft. Weder die Kleiderstangen in den Zwei-Mann-Zelten noch die penible Sauberkeit auf diesem Campingplatz irritierten uns. Erst als dessen Gäste sich am dritten Tag geschlossen auf den Weg machten, um ein Freiluftkonzert von Spandau Ballet anzusehen, fiel bei uns so langsam der Groschen. Nick ist wirklich viel gebildeter als ich es in seinem Alter war.
Und sein Interesse, einmal von Ralf König geweckt, ließ nicht nach. Im Gegenteil. Er fragte beim Essen, ob die Schwulen nicht traurig darüber seien, dass sie gar keine Frauen abbekommen würden und ich erklärte ihm, dass sie deswegen vermutlich eher froh sind. Nick folgerte daraus, dass sein Opa Antonio schwul sei, weil er ständig darüber spricht, wie großartig und wundervoll und anders sein Leben verlaufen wäre, wenn er die Oma nicht geheiratet hätte. „Das sagt er nur zum Spaß“ behauptete ich und erläuterte unserem Sohn, wie das alles funktioniert. Wir sprachen über die Schwulenehe und die Homosexuellen in unserem Bekanntenkreis. Es gibt da einige und Nick war durch die Lektüre von „Zitronenröllchen“ von manchen Outings auch nicht überrascht. Bei dem einen habe er es sich schon gedacht. So dicke Muckis und dann so ein winziger Hund, da sei die Sache klar, stellte er fachmännisch fest.
Dann erzählte ich ihm, dass sich heutzutage sehr viele Leute trauen, in der Öffentlichkeit zu sagen, dass sie lieber mit Männern zusammen sind. Oder mit Frauen. Ich zählte die prominentesten Beispiele auf und wir einigten uns, dass es normal ist, wenn jemand gleichgeschlechtlich tickt. Es ist anders normal. Das gefiel uns beiden als Formulierung.
Nick hat sich nun auf die Lektüre von Prinz Eisenherz verlegt, den ich immer etwas seltsam fand, weil er aussieht wie die junge Mireille Matthieu. Aber die kennt unser Nick ja nicht. Gestern Abend habe ich ihn noch mal auf das Thema angesprochen. Ich dachte, man müsste noch einmal pädagogisch sinnvoll nachlegen. Gerade bei so komplizierten Sachen ist das bestimmt eine gute Idee. Aber Nick fand, es sei nun gut, er habe das alles kapiert. Er bilanzierte schließlich das ganze Wesen der Homosexualität in einer bündigen Analogie aus der Tierwelt. Bevor er nach oben ging, um seine Zahnklammer einzusetzen und noch ein bisschen zu lesen, sagte er: „Papa, die Sache ist im Prinzip einfach. Delphine sind schwule Haie.“ Ja. Gut. Ich glaube, das kann man erst mal so stehenlassen.

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