Mein Leben als Mensch — 08.10.2012

288_Unter Druck

Die hochdotierte Wette ist die Haupteinnahmequelle meines Sohnes. Er hat früh erkannt, dass eine Optimierung seines Portfolios nur durch die Kapitalisierung seiner Risikobereitschaft zu erzielen ist. Neulich wollte er mit mir darum wetten, dass seine Schwester länger als 15 Minuten, aber kürzer als eine Stunde telefonieren würde. Ich ging nicht darauf ein. Auch nicht, als er seinen Einsatz auf eine Million Euro erhöhte. „Du hast gar keine Million,“ sagte ich. „Du auch nicht,“ sagte er. „Ich will auch nicht wetten“, sagte ich. „Wetten, dass Du wetten würdest, wenn Du eine Million hättest?“, rief er. „Um hundert Euro!“ Wenn ihm allerdings etwas wirklich wichtig ist, wettet er um zehn Euro, weil er dann Aussichten hat, diese wirklich abzuzocken. So wie kürzlich, beim Wissenschaftstag in der Schule.
Nick liebt diese Veranstaltung. Die Kinder sitzen hinter ihren Schultischen und erwarten staunende Eltern. Auf jedem Tisch ist ein Experiment aufgebaut. Die Eltern müssen sich auf Stühlchen setzen und Fragebögen ausfüllen, in denen sie mutmaßen, was gleich und warum das gleich passiert. Im besten Fall knallt es wenig später oder es gibt eine Überschwemmung. Ich betrat die Klasse und wartete auf einen freien Stuhl. Ein ernstes Mädchen bat mich schließlich mit einer Sachbearbeitergeste, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Ich sah auf ihr Experiment und konnte es mir nicht erklären. Sie legte den Kopf schief und wartete auf eine Einlassung. Als von mir nichts kam, sah sie mich mit einer Mischung aus Geringschätzung und Mitleid an und sprach: „Ich sage nur ein Wort: Unterdruck.“
Ich tat so, als sei der Groschen gefallen und wechselte zu zwei Jungs, die sich gemeinsam einen Tisch teilten. Sie träufelten nacheinander Essig, Zahnpasta, Seife, Milch und Spülmittel auf zwei Tellerchen mit Rotkohl– und Hibiskusextrakt. Und jedes Mal fragten sie vorher: „Was meinst Du wohl, was jetzt passiert?“ Meistens veränderten sich die Farben der Extrakte. Nach der Beigabe von etwas Natron oder Backpulver blubberte der Rotkohlteller immerhin fröhlich wie ein hessischer Weinfestbesucher. Die Jungs waren begeistert. Ich auch. Dann landete ich bei einem jungen Herrn, der mich Flascheninhalte schätzen ließ. Er zeigte mir eine leere Sanbitter-Flasche. Ich trug auf dem Fragebogen eine Zahl ein. 80 ml. „Falsch“, sagte er.
Dann zog er Spritzen mit Wasser auf und schoss diese in das leere Fläschchen. So konnte man gut mitzählen, wie viel Milliliter tatsächlich hineinpassten. Ich wollte weiter, aber der Junge ermahnte mich streng, sitzen zu bleiben. Er habe noch weitere zwölf Flaschen, alle unterschiedlich groß. Ich lag jedes Mal daneben.
Am nächsten Tisch wartete ein Mädchen, das einen Luftballon unter ein Buch legte. Ob man das Buch anheben könne, ohne die Hände zu benutzen? „Niemals“ rief ich, aber sie blies in den Luftballon und das Buch erhob sich wie auf geheimen Befehl. An einem anderen Tisch wurde ich investigativ zu meiner inneren Einstellung in Bezug auf Bäume und deren Tauglichkeit als Windschutz befragt. Ich sagte, dass so ein Baum sicher dafür geeignet sei. Darauf wurde ich gebeten, doch einmal gegen die Flasche vor der Kerze zu pusten. Ich blies gegen die Flasche, die Kerze dahinter ging aus. Ach! „Sowas nennt man Luftströmung, schon mal davon gehört?“ hieß es von meinem Gegenüber.
Dann kam ich bei meinem Sohn an, ich war schon völlig fertig und froh, dass ich für Intelligenz– und Eignungstests zu alt bin. Er begrüßte mich mit den Worten: „Wetten, dass ich das Glas umdrehen kann, ohne dass das Wasser herausläuft? Zehn Euro.“ Ich hielt matt dagegen. Nicht nur, weil ich ihm eine Freude machen wollte, auch weil ich mürbe war. Die Kinder heute sind unschlagbar schlau. Er legte eine Karteikarte auf das volle Wasserglas, drehte es um und nahm die Hand von der Karte. Sie fiel nicht ab, das Wasser blieb im Glas. „Tja, Papa. Luftdruck und ein bisschen Magie. Macht zehn Euro.“ Ich gab sie ihm.
Als alle Eltern sämtliche Tische besucht hatten, aßen sie Kuchen und quatschten. Die Kinder hielt es jetzt nicht mehr auf ihren Stühlen. Sie sprangen hoch, rissen die Terrassentür auf und entwichen innerhalb von wenigen tausendstel Sekunden aus dem Klassenzimmer. Ich sage nur ein Wort: Unterdruck.

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