Mein Leben als Mensch — 15.10.2012

289_Es hat geklingelt

Es gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Welt, seinen Mitmenschen Waren an der Haustür zu verkaufen. Beinahe unmöglich gestaltet sich dieser Auftrag an der Haustür meines Schwiegervaters Antonio Marcipane. Das wissen die Vertreter natürlich nicht, wenn sie bei ihm klingeln. Die armen Teufel gehen proaktiv an die Sache heran, aber bisher ist noch jeder gescheitert. Letzte Woche hat es wieder einmal einer versucht. Im Namen eines Anbieters von Telefon– und Internet-Anschlüssen versuchte er sein Glück und klingelte gegen 15:32 Uhr, als Antonio sich gerade entsetzlich langweilte, weil Ursula ohne ihn zum Einkaufen und auf den Friedhof gegangen war.
Er öffnete und der Besucher sagte: „Guten Tag, mein Name ist Kevin Böhmer und ich wollte nur mal fragen, wie’s bei Ihnen mit dem Downstream aussieht?“ Antonio sann dem Klang dieser für ihn offensichtlich rätselhaften Frage nach und fragte dann: „Warum wolle Sie der wissen?“ Der Mann strich über seine Krawatte und sagte geheimnistuerisch: „Weil ich da ein paar Optimierungsideen hätte.“ Antonio machte einen kleinen Schritt nach vorne. „So. Habe sie. Dann komme malerein, Kamerad.“
Böhmer setzte sich an den Esstisch und zog ein Formular aus der Tasche. Dann fragte er, wo mein Schwiegervater mit seinem Telefonanschluss Kunde sei. „Bei die Post“ sagte Antonio bestimmt und Böhmer dankte dem Gott der Telekommunikation für diesen offensichtlich total unterversorgten Kunden. Ob Antonio schon mal vom Internet gehört hätte. Antonio schob die Unterlippe vor und fragte: „Wollesie mir vielleikte irgendeetwas verkaufene?“ Böhmer beugte sich vor: „Nicht irgendwas: Die ganze Welt des Internet.“
„Hä?“ Böhmer erläuterte Mail und Browser und Online-Shopping unter Inanspruchnahme zahlreicher aus dem englischen entlehnten Begriffe. Er fand, dass man per E-Mail wunderbar mit den Lieben daheim kommunizieren könne, denn: Das Internet gebe es jetzt auch im Ausland. „Tatesach!“ entfuhr es Antonio. „Erzähle Sie mehr.“ Nach etwa einer Stunde intensiver Kundenschulung jubelte Böhmer, dass nun das Beste käme: Man könne nämlich all diese fantastischen Errungenschaften auch noch mit dem Fernsehen der Zukunft verbinden: 280 TV-Sender, High Definition, Pay-TV, Time Shift, dazu eben Telefon-Flat mit Voive over IP und Internet-Flat mit 16000 Kilobit. Dies alles für weniger als 40 Euro pro Monat und gekrönt von einer formschönen Set-Top-Box. Böhmer war völlig ausgepumpt, nachdem er diese Wunderdinge aufgezählt hatte. Dann beging er den entscheidenden Fehler: „Und für nur 14 Euro neunzig zusätzlich bekommen Sie „Liga Total“ kostenlos dazu.“ Antonio hob den Kopf: „Fußeball? Liga. Dä Bundesliga? Nää.“
Er interessiert sich nicht mehr für die Bundesliga. Seit Uerdingens Abstieg vor 13 Jahren ist ihm die Bundesliga Latte. Toni sagte, dass er den Kasten nur wolle, wenn darin auch der KFC Uerdingen spiele. Der Vertreter klickte unschlüssig mit seinem Kugelschreiber herum und wollte vorschlagen, das Fußball Angebot dann eben auszuklammern, doch da sprang Antonio auf, kramte in der Schrankwand und kam mit einem Album zurück. Er blätterte zehn Minuten und präsentierte dann einen Schnappschuss: Er und sein Freund Benno als Zeugen des Wunders von der Grotenburg. Damals war Böhmer noch gar nicht auf der Welt, also fasste Antonio das Spiel seines Vereins gegen Dynamo Dresden vom 19. März 1986 in einem knapp 50minütigen Vortrag zusammen. Aussichtslos zurückliegend gewann Uerdingen mit 7:3 und zog ins Halbfinale des Pokals der Pokalsieger ein. „Aha,“ sagte Böhmer. „Und was ist jetzt mit meinen Angeboten hier?“ Antonio schlug vor, dass Böhmer die Hymne des KFC auswendig lernen und ihm demnächst als „Grotifant“ verkleidet vorsingen solle, dann könne man über dieses Internet noch einmal sprechen. Er brachte den jungen Mann zur Tür, wohl wissend, dass er ihn nie wiedersehen würde.
Abends berichtete Antonio mir von seinem Besuch, der ihm viel Freude gemacht hatte. Er rief aber nicht an. Er schickte eine Mail. Toni verfügt über eine 50er-Leitung. Volle Pulle VDSL. Niemand surft schneller als er. Aber danach hatte ihn Böhmer ja nicht gefragt.

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