290_Wahlkampf
Das war mir auch neu: Bei Klassensprecherwahlen in der Grundschule werden heutzutage Wahlkämpfe absolviert und Bewerberdebatten veranstaltet. In der vierten Klasse. Dabei wird der Posten doch frühestens auf dem Gymnasium interessant, weil man dann Freistunden zugestanden bekommt, um in der Schülergewerkschaft oder wie das heißt mitmachen zu können. Man ist zwar als Klassensprecher im Gegensatz zu einem Betriebsrat nicht gleich unkündbar, kann aber eine gewisse Popularität an der Schule erlangen, indem an sich dafür stark macht, dass endlich Zigaretten und Jägermeister im Pausenverkauf angeboten werden.
In der Vierten ist das alles noch kein Thema, da geht es um nicht viel, dennoch wollten drei Jungs Klassensprecher werden. Unter anderem mein Sohn Nick. Er kam zu mir und bat mich um einen Rat. Das macht er sonst nie. Ich bin auch kein besonders talentierter Ratgeber. Meine Tipps haben eher praktischen Nutzen. Ich halte mich an das, was schon meine Eltern und deren Eltern empfohlen haben. Erstens: Immer die Nieren warm halten. Zweitens: Immer daneben stehen bleiben, wenn man Milch kocht. Drittens: Alle Paketschnüre aufbewahren, man weiß nie, ob man sie nicht mal brauchen kann. Viertens: Immer saubere Unterwäsche tragen für den Fall, dass man einen Verkehrsunfall hat. Der letzte Ratschlag gibt insofern zu denken als er im Umkehrschluss bedeutet, dass man schmutzige Unterwäsche tragen darf, solange man das Haus nicht verlässt.
Nick wollte aber keine derartige Empfehlung. Er wollte wissen: Wie macht man das, dass die Anderen einen wählen? Ich dachte nach. Dann sagte ich: „Du kannst Deinen Mitschülern zum Beispiel drohen, indem Du auf Dein Wahlplakat schreibst: Wählt mich, sonst setzt es was.“ Nick sah mich verwundert an. Ich sagte: „Das war nur ein Spaß,“ was ihn sehr erleichterte. Dann erklärte ich ihm, dass man, um eine Wahl zu gewinnen, den Wählern etwas versprechen müsse. Es solle allerdings zumindest halbwegs realistisch erscheinen. Wenn er mit dem Slogan Wählt Nick, dann gibt es jeden Freitag Dampfnudeln antreten würde, hätte er mehr Chancen als mit dem Versprechen, die Lehrerin durch Luminara Unduli aus „Star Wars the Clone Wars“ zu ersetzen. Und man solle nicht zu ehrgeizig wirken. Understatement sei sympathischer. Ich sagte: Stellvertreter ist eh der coolere Job. Da hast Du eine Funktion, musst aber nichts machen.“ Dieser Gedanke gefiel Nick sehr und ging nachdenklich in sein Zimmer.
Am nächsten Tag stellte er seine Positionen im Rahmen einer Debatte vor. Es sei nicht besonders gut gelaufen, erzählte er abends. Und dass er deswegen vorhabe, sich selber zu wählen. Wenn ihn dann außerdem noch seine Freundin Franzi wählen würde, hätte er bereits zwei Stimmen. Ich riet ihm davon ab. Sich selbst zu wählen, das machen wirklich nur Deppen. Hat man gerade beim Ergebnis der Bürgermeisterwahl in unserem Dorf gesehen.
Die Bürgermeisterin ist auf knapp 86 Prozent gekommen. Das ist nichts Besonderes. Lustig waren jedoch die 24 Personen, die sich ebenfalls für dieses Amt beworben haben und auf die jeweils eine Stimme entfiel.
Vorgestern wurde schließlich in der 4b gewählt. Nick wurde dritter. Sein Wahlkampf beinhaltete das Versprechen, auf der Klassenfahrt seinen iPod-Touch an jeden zu verleihen, der ihn würde haben wollen. Die Klassenfahrt ist aber erst im April und er verleiht ihn sowieso ständig. Seine Äußerung, ohnehin nur Vizeklassensprecher werden zu wollen führte auch nicht gerade zur massenweisen Abgabe von Stimmen für ihn. Der erstplatzierte Ludwig hatte einen Kantersieg errungen, indem er für den Fall seiner Wahl eine ganze Packung Toffifee ausgeben würde, was er dann auch umgehend tat. Auf dem zweiten Platz landete mit zwei Stimmen Max, der offen damit kokettierte, für sich selbst gestimmt zu haben. Nick erhielt genau eine Stimme. Trotzdem war er nicht schlecht gelaunt, im Gegenteil. Das verstand ich nicht. „Sieh es mal so, Papa,“ erklärte er mir Abends, „ich habe mich nicht selber gewählt. Und die eine Stimme, da weiß ich, von wem sie ist.“ Er blickte mich versonnen an und ich dachte: Nein, so sieht kein Wahlverlierer aus.