294_Kinderpost
Etwa 300 Arbeitsstunden eines deutschen Angestellten gehen pro Jahr für das Lesen von sinnlosen Mails drauf. Und damit sind nicht jene gemeint, in denen der sinistre Mister Chan aus Hongkong einen geschäftlichen Vorschlag unterbreiten will. Schlimmer und praktisch nicht filterbar sind E-Mail-Verteiler. Einmal drin, weil er sich irgendeiner Arbeitsgruppe angeschlossen hat, wird ein Büroangestellter im Minutentakt mit Nachrichten beflakt, die nicht für ihn bestimmt oder uninteressant oder veraltet sind oder Psychokram beinhalten. Ich arbeite zwar nicht in einem großen Unternehmen, aber ich kenne das Trommelfeuer der Nichtigkeiten. Ich bin nämlich im unerbittlichsten E-Mail-Verteiler der Welt. In diesen gelangt man, wenn man sich im Besitz schulpflichtiger Kinder befindet.
Jahrelang hatte ich mit der Subkultur der Schulpflegschaft nichts am Hut. Daran war mir seit einem traumatischen Elternabend im Kindergarten vor zehn Jahren gelegen. Damals musste ich auf einem winzigen Stuhl sitzend Rechenschaft darüber ablegen, dass meine Tochter eine Kindkollegin mit den Worten: „Mach Platz für Satan“ von der Schaukel geschubst hatte. Der Umstand, dass es sich um einen katholischen Kindergarten handelte, führte zu einem ausführlichen Exorzismus meiner Person durch sämtliche Eltern und Erzieherinnen.
Seitdem hielt ich mich raus und hatte keine Ahnung vom Schulbusplan, dem Pausenverkauf, der Aufräumaktion und dem Basteltag. Bis vor zwei Monaten. Da landete ich durch einen grausamen Klick meiner Frau im Verteiler der Schulpflegschaft. Es beteiligen sich dort Mütter, die offenbar nichts weiter mit ihrem Leben anfangen, als anderen Müttern und Lehrern sowie unverschuldet in den Empfängerkreis geratenen Schriftstellern ununterbrochen Mails zu schicken. In dieser Woche erfuhr ich alles über das Kürbisschnitzfest. Mir wurde hinterbracht, dass Cheyennes Jacke verschwunden ist. Den Zwergmäusen in der 4b geht es gut. Leider wurde der trinomische Kubus entliehen und noch nicht zurückgebracht und es wird um Kuchenspenden für die Verabschiedung von Frau Vollmer gebeten. Soso.
Heiter wurde es, als zwischen den Müttern Heidi und Karin ein voll endkrasser Krieg ausbrach. Beide engagierten sich in einer Neigungsgruppe und beanspruchten dort die Mütterführung. Heidi lud zu einem Treffen am Mittwoch um 15 Uhr ein. Karin lud daraufhin zum selben Treffen am Freitag ein. Heidi schrieb, dass sie den Mittwoch favorisiere. Darauf schrieb Karin, dass die blöde Schnepfe sich mal schön aus ihrer Neigungsgruppe raushalten solle. Diese letzte Mail war allerdings nicht für Alle gedacht. Und schon gar nicht für Heidi. Karin ist jetzt nicht mehr in der Neigungsgruppe.
Mir gefiel das, aber inzwischen nervt dieser Verteiler. „Leider muss ich mich wieder darüber beklagen, dass in der Telefonliste ein Zahlendreher ist. Die Büronummer meines Mannes lautet korrekt…“ Blablabla. „Unser Moritz kam neulich mit einem Schimpfwort nach Hause. Bitte sprechen Sie mit Ihren Kindern darüber. Und was bedeutet abgeschaufelte Wurstkuh überhaupt?“ „…Teilen wir Ihnen mit, dass Leon nicht wie gestern im Sachkundeunterricht behauptet, an AIDS leidet, sondern an Mumps. Bitte stellen Sie das in der Klasse umgehend richtig.“ Irgendwann verging mir die Lust an diesen Knallköpfigkeiten. Ich leitete sämtliche Mails, in denen der Name der Schule vorkam, direkt in den Papierkorb um.
Vorgestern fuhr ich zum Schulparkplatz, um unseren Sohn abzuholen. Die Klasse war auf einem Ausflug gewesen. Der Bus sollte um 16 Uhr da sein. War er aber nicht. Auch nicht um 16:30 Uhr. Ich fuhr wieder nach Hause. Eine Stunde später rief der Hausmeister an. Wo ich eigentlich bliebe. Nick stünde seit eineinhalb Stunden alleine im Regen vor der Turnhalle. „Wieso vor der Turnhalle,“ fragte ich. „Warum nicht auf dem Parkplatz?“ Das habe man alles in der Mail von heute morgen erläutert, schnauzte er mich an. Ich holte Nick, der kein Wort mit mir sprach. Dann löschte ich die Mailumleitung. Es erschienen sofort 28 Nachrichten. Die Freiarbeit findet am Freitag wie gewohnt statt. Melanie hat eine Allergie gegen Mehl, man möge sie beim Backen bitte nicht einstäuben. Und der Bus hält heute ausnahmsweise vor der Turnhalle.