508_Weihnachtspost
Zu den größten Missverständnissen meines Berufes gehört die Vermutung fremder Menschen, ich könnte ihnen einen Vertrag bei einem Verlag besorgen. Mindestens ebenso verbreitet ist die Annahme, ich würde gerne Manuskripte anderer Leute lesen. Beides trifft nicht zu. Mein Einfluss auf den Rowohlt-Verlag ist erschreckend gering. Weder will der meinetwegen nach München umziehen, noch möchte er von mir neue Autoren vermittelt bekommen. Neben meinem geringen Einfluss gibt es aber auch noch weitere Gründe, weswegen ich darum bitte, mir keine, überhaupt keine Manuskripte zu schicken. Erstens habe ich keine Zeit, sie zu lesen. Zweitens möchte ich nicht versehentlich davon inspiriert und später wegen Ideenklaus verklagt werden. Und drittens sind praktisch alle Manuskripte, die ich jemals bekam, total unbrauchbar. Man muss es mal so sagen.
Woher ich das wissen will, wenn ich sie nicht lese? Weil ich sie gelesen habe. Früher. Das ging meistens so, dass nach einer Lesung zum Beispiel der Buchhändler auf mich zu kam und mich zum Essen einlud. Es seien nur zwei Kolleginnen, der Kulturdezernent, dessen Gattin und ein befreundetes Ehepaar aus Pirmasens dabei. Sehr nette Leute. Ich ging also mit und nach der Vorspeise wuchtete die Dame aus Pirmasens mir einen 400 Seiten starken Stapel Papier auf den Schoß, mit der Bitte ihr Werk zu lesen und zu beurteilen. Was ich leider tat. Dies hatte zur Folge, dass mir noch mehr Menschen Romane, Lebensbeichten und dringend notwendige Korrekturen zum Ablauf des Dreißigjährigen Krieges zuschoben. Inzwischen steht in meinen Verträgen, dass ich nach Veranstaltungen nicht mehr essen gehe.
Das änderte jedoch nichts an meinem Schicksal. Als ich auf Reisen mit Verweis auf das schwere Reisegepäck nichts mehr annahm, schickten die Menschen es eben mit der Post an meinen Verlag, der die Päckchen einfach an mich weitersendete. Manchmal bekam ich dazu Anschreiben, in denen zu lesen war, dass das nunmehr an mich adressierte Buch bereits von zwölf Verlagen abgelehnt worden sei. Und dass aber die Mutter der Autorin das Manuskript sehr gerne gelesen habe und die habe viel Ahnung. Und ob ich nicht mal bei meinem Verlag intervenieren könne. Irgendwann hörte ich auf, das Zeug zu lesen. Es hatte auch keinen Sinn. Mehrfach abgelehnte Texte von Frauen beginnen in etwa so: „Es war Miriams erster Tag in der Werbeagentur und bereits beim Betreten des verspiegelten Hochhauses war ihr dieser knackige Grafiker aufgefallen.“ Wenn Männer mir Manuskripte schickten, fingen sie so an: „Kommissar Grundgrens Augen verengten sich zu rasiermesserscharfen Schlitzen. Er hatte Blut geleckt. Dieser Fall war seiner.“
Seit ich auf meiner Homepage darauf hinweise, dass ich keine Manuskripte lese oder beurteile und keine Wege ins Verlagswesen kenne, kommt fast nichts mehr. Aber neulich erhielt ich einen dicken Brief von einem Herrn, der sich im Anschreiben als früherer Lektor vorstellte. Er sei gerade in Rente gegangen. Beim Ausräumen seines Büros sei er auf das Manuskript eines jungen Talentes gestoßen, dass er mir nicht vorenthalten wolle. Der junge Mann könne etwas und vielleicht hätte ich ja Verwendung für das Material. Mehr stand nicht im Brief, der noch einen zweiten Umschlag enthielt, den ich jedoch nicht öffnete. Ich warf ihn aber auch nicht weg, sondern legte alles zusammen irgendwo ab, weil ich das Schreiben so höflich fand und zumindest beantworten wollte.
Heute Morgen nahm ich mir dann die Post der letzten drei Wochen vor. Ich beantwortete alles, klebte Marken auf Briefumschläge und als Letztes las ich noch einmal den Brief dieses Lektors von vor ein paar Wochen. Dann öffnete ich den zweiten Umschlag und zog sieben Blätter Papier hervor. Offenbar Kurzgeschichten. Und zwar von mir. Abgeschickt im Juni 1986. Drei kleine Geschichten, die ich achtzehnjährig an einen Verlag schickte. Ich habe nie wieder davon gehört und die Texte auch längst vergessen. Und jetzt sind sie wieder da. Ich bin darüber sehr gerührt. Und: Ich habe eine Antwort von dem Lektor bekommen, dem ich sie geschickt habe. Nach über dreißig Jahren zwar, aber immerhin. Und sehr freundlich geschrieben. Alles andere als ein Formbrief. Es ist ein richtig schönes Weihnachtsgeschenk.