Mein Leben als Mensch — 16.01.2017

510_Die Affäre Baum

Nichts auf der Welt sieht so traurig aus wie ein Christbaum am 7. Januar. Und nichts ist so schnell vergessen. Wenn man ihn nicht in der Blüte seiner Jahre am 24. Dezember fotografiert hat, weiß man bereits am 8. Januar nicht mehr, wie er überhaupt aussah. Wir hingegen wissen genau, wie der Christbaum aussah, denn er ist immer noch da. Und das kam so:
Wir schmückten die trockene Nordmanntanne am 6. Januar ab, das ist bei uns eine wichtige Tradition, denn ich trinke dabei immer das letzte, das allerletzte Bier für eine lange Zeit. An Heiligabend gönne ich mir ein Schmückbier, am Tag der Heiligen drei Könige traditionell ein Abschmückbier. Wir legen die Kugeln und die Kerzenhalter und das Zeug und den Firlefanz vorsichtig in Kartons und der nadelnde Strunk kommt nach draußen. Tage später fährt die freiwillige Feuerwehr durchs Dorf und holt die entkleideten und mit Wachs überzogenen Gerippe ab. Ich glaube, das ist überall in Deutschland so.
Bei uns kam die Feuerwehr gleich am nächsten Tag, am 7. Januar, und das war ein Samstag. Da bin ich auf Baumtransporte nicht eingestellt. Ich rechnete fest damit, dass der Baum montags geholt würde und wollte ihn am Sonntagabend auf die Straße legen. Aber als ich das schwere Biest mühsam zum Bürgersteig geschafft hatte, war dort kein anderer Baum zu sehen. Ich dachte erst, dass sämtliche Nachbarn auf Plastik oder auf Ficus umgestiegen waren oder auf Gehölz, das man anschließend in den Garten pflanzen kann. Nach einem kurzen Moment der Ratlosigkeit entschied ich mich für höchsten Pragmatismus und dafür, den unbeobachteten Moment zu nutzen, den Baum einfach an die Straße zu legen und abzuhauen. Meine Frau ist Italienerin. Das färbt ab. Da kam Dattelmann mit seinem Hund vorbei.
Er ist der Grönaz, der größte Nachbar aller Zeiten. Er macht immer alles richtig und er besitzt einen Gasgrill, einen Mähroboter und zwei Kärcher-Geräte. Obwohl wir umgezogen sind, wohnt er in der Nachbarschaft. Ich habe es nicht weit genug weggeschafft. „Du willst den Baum aber jetzt nicht einfach hier liegenlassen, oder?“ Ich verneinte. Dann wartete ich, bis er weg war – und trug den Baum wieder rein. Sara sagte, es sei eindeutig viel zu früh für einen Christbaum, wir könnten noch gute elf Monate damit warten.
Ich legte ihn auf den Boden und wir berieten, wie wir ihn loswerden konnten. Ich hoffe, dass ich nicht von einem Geheimdienst abgehört werde, denn die Unterhaltung klang in etwa so wie bei Mafia-Gangstern, die sich über die Beseitigung des toten Bürgermeisters unterhalten.
Nick sagte: „Wir können ihn in ein Laken wickeln und zum Wald tragen. Da wickeln wir ihn aus und decken ihn mit Blättern zu.“Carla sagte: „Wir kaufen einen Gartenhäcksler und stopfen ihn da rein.“ Das hat sie so ähnlich mal in dem Film Fargo gesehen. Da wurde allerdings kein Baum in den Häcksler gegeben. Sara regte an, den Baum Zweiglein für Zweiglein in winzigen Schritten im Aschenbecher zu verbrennen. Jeden Tag ein Ästlein und ein Häufchen Nadeln. Das würde auch gut riechen. Die größeren Stücke des Stammes könne man beim Sonnenwendfeuer im Juni einfach auf die große Wiese bringen, wo die Feuerwehr jedes Jahr ein sagenhaftes Brand– und Saufspektakel veranstaltet.
„Aber dann brauchen wir ja ewig, bis der verdammte Kerl weg ist,“ meckerte ich, denn ich bin für schnelle Lösungen. „Apropos Lösungen,“ rief mein Sohn: „Wir können das Ding auch in der Badewanne auflösen. Wir legen ihn rein, 100 Liter Säure hinterher und die Probleme lösen sich von ganz alleine.“ Das stimmt zwar, aber ich war trotzdem dagegen. In einer Serie habe ich mal gesehen, wie sich die Badewanne dabei gleich mitauflöste. Das will ich nicht riskieren. Also entschied ich eine sehr konsequente Umgangsweise, die ich auch schon einmal in einem Film sah: „Wann immer einer das Haus verlässt, nimmt er ein bisschen Baum mit und schmeißt es in die Mülltonne. Oder in einen Garten. Bei Dattelmann zum Beispiel. Wenn jeder mitzieht, ist das Ding in zwei Wochen weg.“ Leider machen die anderen aber nicht mit. Ich bin der Einzige bei uns, der mit einer Handvoll Nadeln das Haus verlässt und diese pfeifend in den Wind wirft. Der Baum steht inzwischen draußen vor der Terrassentür. Ich habe ihn ein bisschen geschmückt, damit er nicht so nackt und traurig aussieht.

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