524_Qualzucht
Kinder müssen sich abgrenzen. Sie müssen ausbrechen, die Dinge anders betrachten als ihre Eltern, Zeichen setzen, ins Leben donnern. Ich finde, sie sollten das möglichst früh tun, dann haben wir es alle hinter uns. Frisuren, Klamotten und Musik dürfen und müssen von den Eltern abgelehnt werden, das gleiche gilt für die Partnerwahl. Später kommt man dann wieder zusammen. So war es immer und so ist es gut. Wenn solche Revolten nicht eintreten, werde ich nervös. So wie bei Elisabeth. Sie muckt einfach nicht auf, das macht mir richtig Angst.
Noch mehr fürchte ich mich allerdings vor ihrer Mutter. Sie heißt Renate und war neulich bei uns zu Besuch. Ich kenne sie eigentlich kaum, sie ist eine Bekannte von Sara. Die beiden haben sich bei irgendwas in der Schule kennengelernt und wenig später hieß es, sie seien Freundinnen. Frauen machen sowas. Lernen einfach neue Freundinnen kennen. Meinen letzten Freund habe ich im Juni 2006 kennen gelernt, als er mir aus Versehen von hinten eine Bratwurst ins T-Shirt fallen ließ. Die Wurst glitt mich salbend an meinem Rücken entlang und fiel unten wieder raus, was uns beide sehr erheiterte. Seitdem sind Achim und ich befreundet. Danach ist niemand mehr dazu gekommen.
Egal. Letzte Woche saß Renate in unserer Küche und verlangte einen Capucchino mit Soja-Milch. Sowas habe ich nicht. Ich esse ja auch keine Pommes mit Erdbeermarmelade. Ich habe Milch. Die ist lecker. Sie gab sich missvergnügt mit einem Espresso zufrieden, den sie beharrlich „Expresso“ nannte. Vor dessen Verzehr legte sie ihr Handy auf den Tisch und sah auf das Display, wann immer das Gerät einen kurzen Warnton abgab. Bing. „Elisabeth ist jetzt beim Cello“, sagte sie und prüfte mit einem Blick auf ihre Uhr, ob Elisabeth pünktlich war. Eine halbe Stunde später machte es „bing“ und Renate verkündete, dass Ihre Tochter soeben in den Bus gestiegen sei. Dann zeigte sie uns ihr Handy, auf dem Elisabeth als kleiner roter Punkt über eine Landkarte kroch. „Ich kann sie jederzeit tracken. An der nächsten Station steigt sie aus.“ Doch da irrte Renate. Elisabeth oder zumindest ihr Handy fuhren weiter. Also rief Renate sofort an, um zu fragen, was da los sei. Elisabeth erklärte ihrer Mutter, dass sie noch zum Schreibwarenladen führe, um neues Notenpapier zu erstehen.
Renate zeigte uns dann den Tagesplan ihrer Tochter, demzufolge noch einiges bevorstand: Physik und Mathe, dann Cello üben und später noch einen Brief für das Patenkind in Afrika verfassen. Ich fragte die Mutter, ob es für jeden Tag einen solchen Plan gebe und sie bejahte. „Außer am Sonntag, Da bestimmen die Kinder und entscheiden, ob wir ins Museum gehen oder ins Konzert.“ Ich fragte, ob Elisabeth und ihr zwei Jahre älterer Bruder Richard niemals über die Stränge schlügen. Ob sie nie heimlich Bier tränken, ihre Jeans zerrissen oder zu spät nach Hause kämen. Renate wurde bleich um die Nase und dann sagte sie: „Das würden uns die Kinder nie antun. Und außerdem besitzen wir keine Jeans. Jeans sind etwas für Menschen ohne ästhetische Bildung. Die Kinder tragen Flanell, das ist eine Gnade“
Sara fragte Renate, ob sie ihren Kindern gar nicht vertraue und Renate führte aus, dass ihre Überwachung ganz einfach ihrer Haltung zu Verantwortung und Aufsichtspflicht entspreche. Dafür seien ihre Kinder dankbar. Renate erklärte, dass die Verwahrlosung hinter jedem Buchdeckel und vor allem im Internet lauere und sie daher jede einzelne Buch– und Internetseite auf Unbedenklichkeit prüfe. Dabei sei es bisher nur einmal zu einer Auffälligkeit gekommen, als Elisabeth ein Musikvideo von einem offenbar geistesgestörten jungen Mann angeklickt hatte, der IN JEANS gesungen und getanzt habe. Sie habe diesen Timberlake dann umgehend auf den Index gesetzt und es war Ruhe. Das fand ich sehr verstörend. Aber auch sinnlos. Denn die Revolution lässt sich trotzdem nicht aufhalten. Sie kommt bloß später.
Eines Tages wird Elisabeth ausbrechen. Sie wird sich tätowieren lassen, mit wilden bärtigen Kerlen um die Häuser ziehen und Kunst studieren. Ganz am Ende wird sie ihrer Mutter aus Rache immer nur das ganz billige Spritzgebäck mitbringen, wenn sie sie einmal im Jahr im Altenheim besucht. Das hat Renate dann davon, dass sie ihre Tochter jetzt gängelt und quält. Das hoffe ich jedenfalls inständig.