Mein Leben als Mensch — 27.06.2017

531_Prosit heißt Kippis

Grundsätzlich finde ich schön, dass ich entscheiden kann, wer bei uns übernachtet. Ich möchte gefragt werden, um „nein“ sagen zu können, falls Nick jemanden aus dem Internet bei uns einquartieren möchte. Dieses Vetorecht wurde allerdings jüngst von Ulrich Dattelmann ausgehebelt. Er ist der Vorsitzende des Schulvereins und er entscheidet, was die Eltern in ihrer Freizeit machen. Zum Beispiel Zelte aufbauen. Oder Tofuwürstchen grillen. Oder fremde Kinder beherbergen. Letzteres erfolgte per Anordnung durch eine Mail, in der Dattelmann ankündigte, dass der berühmte Kinderchor von Rovaniemi, Finnland, auf Deutschlandtournee sei und auch in unserer Schule gastiere. Es würden noch Betten gebraucht. Als Belohnung erhielten die Gastgeber freien Eintritt zum Konzert.
Ich antwortete ihm, dass ich gar keinen Zugang zu Chormusik hätte, aber gerne einen isländischen Leichtathleten aufnehmen würde, wenn er einen im Angebot habe. Dattelmann verfügte, dass ich froh sein solle, überhaupt in Kontakt mit den kleinen Künstlern zu kommen, die übrigens alle Deutsch sprächen, weil sie auf eine deutsche Schule gingen.
Als am letzten Mittwoch der Bus aus Rovaniemi eintraf, wurden die finnischen Knaben auf oberbayerische Familien verteilt. Der letzte Junge, der aus dem Bus stieg, war auch der größte und genau dieser wurde mir von Dattelmann ins Auto gesetzt. Wir fuhren schweigend heim. Sara, Carla und Nick begrüßten unseren Gast mit „Hyvää päivää“, was angeblich „Guten Tag“ heißt, aber vielleicht auch die Aufforderung beinhaltet, eine Jungfrau mit Ahornsirup zu bestreichen und sie über kleiner Flamme zu rösten. Jedenfalls guckte der Junge befremdet, was sich auch nicht änderte, als wir ihm sein Zimmer zeigten. Er fragte nach unserem W-LAN Passwort, dann verschwand er bis zum Abendessen im Internet.
Als ich ihn fragte, was er trinken wolle, sagte er „Bier“, was mich erstaunte, denn seine Stimme klang dabei nicht glockenhell wie die eines Chorknaben, sondern eher wie die eines Mannes, der sich schon viele Enttäuschungen mit einem Whisky aus der staubigen Seele gespült hat. Auf Anfrage sagte er noch, dass sein Name Marek sei, ansonsten blieb er angenehm wortkarg, was sich auch nach der zweiten Flasche Bier nicht änderte. Sara fand ihn interessant und wollte wissen, was er denn am liebsten singe. Darauf antwortete Marek, dass der Finne an sich nichts am liebsten singe, sondern alles mit der selben fehlenden Hingabe. Für ihn persönlich treffe dies jedenfalls zu. Er sei Dekonstruktivist, was ich für ein Chormitglied ausgesprochen ambitioniert fand. Dann bestellte er noch ein Bier. Als wir im Bett lagen, hörten wir ihn im Gästezimmer singen und es klang sehr danach, dass er finnisches Liedgut aus dem breiten Spektrum des Fußballgesangs dekonstruierte.
Am nächsten Morgen begleitete Marek unseren Sohn in die Schule, danach blieben die finnischen Gäste dort, um zu proben und sich für den Auftritt vorzubereiten. Wir erschienen gegen neunzehn Uhr und ich war gespannt darauf, wie Marek die Orchesterwerke von Jean Sibelius zu dekonstruieren gedachte. Als das Konzert begann, suchten wir ihn jedoch vergebens, jedenfalls auf der Bühne. Ich entdeckte ihn schräg hinter uns im Publikum, wo er mit weit aufgerissenen Augen dem Geschehen folgte und dabei ein Bier trank. Am Ende des Konzertes klatschte er hingerissen und stieg in unser Auto, wo er auf der Stelle einschlief. Anderntags brachte ich ihn zum Treffpunkt. Er bedankte sich knapp und verschwand im Bus.
Das Rätsel um Mareks geisterhafte Anwesenheit in diesem Chor wäre für immer ungelöst geblieben, wenn Dattelmann mich nicht angesprochen hätte. Wie es denn mit Marek gewesen sei, fragte er. „Toll“, log ich. Da freute sich Dattelmann und sagte, dass er diesen Marek mit Bedacht bei uns untergebracht habe, weil ich ja gesagt hatte, dass ich mit Chormusik wenig anfangen könne. Genau wie Marek. Der sei nämlich bloß mitgekommen, weil sein kleiner Bruder erkrankt sei. Man habe diesen Platz im Bus übrig gehabt und sei mit den Eltern der Meinung gewesen, dass es für Marek gut sei, mal etwas anderes zu sehen als die Polizeistation von Rovaniemi, in der er sich häufig aufhalte. Das finde ich auch. Tschüs Marek, oder wie der Finne sagt: Heippa!

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