532_Die Folterstunde
Es gibt für moderne Menschen nichts Schlimmeres als den plötzlichen Verlust des Smartphones. Man ist ja nicht darauf vorbereitet. Was soll man denn bloß mit sich und vor allem mit seiner ganzen Zeit anfangen, wenn man nicht mehr am Handy rumspielen kann? Gut. Man könnte lesen. Die Buchverlage stellen immer wieder bekümmert fest, dass die Zeittorte des Alltags zwar immer gleich groß bleibt, aber der Abschnitt, der aufs Lesen verwendet wird, ständig kleiner wird. Tatsächlich gilt das für alle Verrichtungen, die vor der Einführung des Iphones üblich waren. Ich möchte dies nicht kritisieren, denn ich bin nicht besser als die meisten Anderen und nur ganz wenig besser als mein Sohn.
Der musste gerade über eine Stunde in der Hölle der Wirklichkeit verbringen und das kam so: Ich holte mir beim Rasenmähen eine Zerrung und nein, das ist nicht lustig. Oder nur ein bisschen. Ich kenne persönlich jemanden, der sich beim Staubsaugen die Nase gebrochen hat. Die betreffende Person wollte den Netzstecker des Saugers aus der Steckdose ziehen, der Stecker klemmte, sie riss mit Wucht am Kabel, plötzlich schnellte der Stecker heraus und sie mit dem Kopf nach oben, ausgerechnet gegen eine Türklinke. Knack, Nase gebrochen. Klingt ulkig, war aber so. Die Person ist mit mir bekannt, mehr noch, sogar mit mir verheiratet.
Egal. Jedenfalls wollte ich den Rasenmäher im italienischen Ferienhaus in Gang setzen. Der Vermieter hatte mir erklärt, dass man dafür den Benzinhahn öffnen und den Choke ziehen müsse. Dann wie beim Fliegenfischen mit Schwung und Bella Figura am Strick reißen. Ich war noch nie beim Fliegenfischen, also zog ich eben so, wie ein deutscher Tourist an einem Startseil zieht. Das blöde Ding riss ab, ich taumelte durch den Garten wie ein Hammerwerfer und spürte einen Schmerz im Arm und in der Schulter und überall da in der Gegend.
Also fuhr ich zum Physiotherapeuten im Nachbarort. Nick begleitete mich, weil wir danach noch in den Supermarkt wollten. Er ist mein Einkaufsberater und muss das Eis aussuchen, sowie die Erfrischungsgetränke. Ohne ihn kann ich nicht einkaufen. Er sagte, er würde sich die Wartezeit mit seinem Handy vertreiben. Also ging ich ins Behandlungszimmer und er setzte sich in den Wartebereich. Dann nahm in beiden Räumen das Drama seinen Lauf. Ich legte mich auf eine Pritsche und ein Herr namens Sergio erklärte mir, ich solle mich entspannen. Das ist ein weltweit verbreiteter Trick in der Physio– und Massagebranche. Sie sagen „Relax“ und sobald man relaxed ist, greifen sie zu und kugeln Dir die Gelenke aus.
Währenddessen saß mein Sohn im Wartezimmer und stellte fest, dass sein Smartphone nicht da war. Seine Schilderung der nächsten Stunde fasst das Grauen einer handylosen Existenz treffend, aber in seiner bodenlosen Stumpfheit nur unzureichend zusammen. Als wir wieder im Auto saßen und ich ihn fragte, was er gemacht habe, sagte er: „Mein Handy war nicht da. Also habe ich da einfach nur gesessen, weil die Zeitschriften alle auf italienisch waren. Dann kam ein alter Mann rein und hat mich die ganze Zeit angestarrt. Nach einer Viertelstunde kamen zwei alte Frauen und erst haben sie mich zu dritt angestarrt. Dann hat die erste angefangen, mit mir zu reden, aber ich habe sie nicht verstanden. Die zweite ist aufgestanden und hat mich in die Wange gekniffen. Dann hat mich die erste auch in die Wange gekniffen. Der alte Mann hat gelacht, aber wenigstens hat er nicht gekniffen. Dann haben sie zu zweit auf mich eingeredet, während der Mann weiter gestarrt hat. Es war furchtbar. Und kein Handy da, um mich zu retten. Als sie gingen, haben sie mich noch einmal gekniffen“
Wir kauften ein und fuhren ins Ferienhaus. Beim Essen klingelte mein Telefon. Es war Sergio. Er teilte mit, dass er unter dem Stuhl im Wartezimmer ein Handy gefunden habe, dort wo mein Sohn saß. Es muss ihm wohl gleich beim Hinsetzen aus der Tasche gefallen sein. Ich fuhr hin und holte es ab. Sergio erzählte mir dann noch, das seine Patientinnen so angetan gewesen seien von dem deutschen Jungen. Der habe eine Stunde dagesessen, ohne in ein Handy zu glotzen. Dies sei bei italienischen Jugendlichen vollkommen undenkbar. Die Damen fanden sein Verhalten beispielhaft und wunderbar. Nick war dann sehr froh, als er sein Smartphone zurückbekam. Er hat es seitdem nicht mehr aus der Hand gelegt.