534_Trennungsschmerz
Nun ist sie plötzlich weg, die Kaja. Jahrelang kam sie zu uns nach Hause, zwei Mal die Woche. Unsere Putzfrau. Unsere Beherrscherin des Parketts, unsere Göttin des Gasherds, unsere Garbo der Glasflächen. Manchmal merkte ich gar nicht, dass sie da war. Dann saß ich am Schreibtisch und erst Stunden nach ihrem Eintreffen stellte ich fest, dass sie bereits durchs Haus gefeudelt war und es schon wieder verlassen hatte. Wie ein Geist. Sie machte kaum Geräusche, außer beim Staubsaugen. Sie sang nicht, sie fluchte nicht, sie telefonierte nicht. Sie sprach auch nicht viel. Eigentlich so gut wie gar nichts.
Manchmal fand ich sie in der Küche vor, wenn ich mir einen Espresso machen wollte. Sie grüßte dann fröhlich, aber ließ sich nie auf einen Kaffee einladen. Nur einmal nahm sie das Angebot eines Cappuccinos an. Das war letztes Jahr vor Weihnachten. Ich fragte sie, was sie über die Feiertage machen wolle und sie sagte: „Fahre ich Polen. Zu Mama und Tata.“ Da fuhr sie oft hin, ich glaube, sie hatte immer Heimweh.
Sonst war ihr kaum etwas zu entlocken, dafür schrieb sie aber Briefe, die ich alle aufgehoben habe, weil mir ihre Putz-Poesie so gut gefiel. Für mich war das reine Lyrik und säße ich in der Jury des Büchner-Preises, hätte ich Kaya vorgeschlagen, weil sie eine Meisterin der Reduktion ist. Meistens notierte sie in ihren Mini-Texten, was ihr gerade fehlte: „Siddolin, Bodemittel, Küchekrepp.“ Sie schrieb auch kurze, aber extravagante Tätigkeitsberichte oder Ankündigungen.: „Heute gemacht Bad, aber nicht WC.“ Oder: „Nächste Mal bügel.“ Um Diskussionen mit uns zu vermeiden, warf Kaya grundsätzlich nichts weg, wenn sie sich nicht ganz sicher war, dass es auch wirklich in den Müll gehörte. Einmal stand auf der Anrichte ein offenes Glas Erdbeermarmelade, das Nick dort vergessen hatte. Es klebten ungefähr 500 Ameisen daran und darin. Für Ameisenbären ein gutes Dessert, aber bei uns wohnt kein Ameisenbär. Neben dem Glas lag eine Notiz von Kaya: „Marmolada nix mehr essen, da drin Tiere.“ Wirklich, ich liebte ihre Briefe.
Sie öffnete ungern die Tür, wenn es klingelte, sondern kam dann zu mir und sagte: „Höre Klingel.“ Als ich jedoch einmal nicht zuhause war, machte sie auf und unterhielt sich ergebnislos mit einem Abgesandten Jehovas Zeugen. Ihre schriftliche Zusammenfassung des fruchtlosen Austauschs könnte als Sinnbild erfolgloser bilateraler Diplomatie dienen: „Mann kommen, aber nix verstehen, wieder gehen, kommen nächste Mal.“ Das ist große Kunst der Verdichtung und ein Beispiel dafür, wie ein Text durch pures Weglassen unnützer Informationen rasend spannend wird.
Die Kommunikation mit den Kindern gestaltete sich unmittelbarer. Während sie Nachrichten für Sara oder mich immer auf dem Esstisch ablegte, schrieb sie Carla und Nick gerne Briefchen, die sie ihnen direkt aufs Kopfkissen oder auf den Fußboden legte. Als Nick sich einmal bei mir darüber beschwerte, dass Kaya bei ihm nicht saubergemacht und ich dies bei Kaya vorgebracht hatte, verteilte sie überall in seinem Zimmer Post Its mit schwarzen Pfeilen. Die Pfeile deuteten auf sämtliche Gegenstände hin, die Nick aufräumen sollte, bevor sie bei ihm tätig werden würde. Es waren ungefähr 160 Zettel und sie verfehlten ihre Wirkung nicht. Bevor sie das nächste Mal kam, räumte Nick alles artig beiseite, was sie an der Ausübung ihres Berufes hätte hindern können. Kaya war nicht nur eine kreative Wortkünstlerin, sondern auch pädagogisch ein Talent.
Jetzt, wo sie weg ist, kommt es mir seltsam vor, dass sie so viel von uns und unserem Leben wusste und wir praktisch gar nichts über sie. Als ich am Donnerstag nach Hause kam, lag ein Abschiedsbrief auf dem Tisch: „Hallo, ich werde nicht mehr bei hier Arbeit, habe ich neue Arbeit. Hier ist Schlussel. Viele Dank für alles, Kaya.“ Ich war traurig und rief ihre Handynummer an, die ich zuvor noch nie gewählt hatte, aber es kam nur eine Stimme, die sagte: „Diese Rufnummer ist uns nicht bekannt.“ Kaya wird also für immer ein Geheimnis bleiben, ein großes lyrisches Rätsel. Das ist sehr traurig, aber es passt zu ihr.