537_Der Reisebericht
Das Leben unserer Kinder ist fabelhaft dokumentiert. Es findet praktisch keine Verrichtung statt, die nicht von ihnen fotografisch verewigt und veröffentlicht würde. Man muss sich keine Sorgen machen, dass sie bettelnd in Fußgängerzonen herumlungern, weil sie andauernd Fotos posten, auf denen sie im Park beim Picknick zu sehen sind. Sie überwachen sich quasi selber, was den Eltern den Druck investigativer Recherchen nimmt.
Insofern freute ich mich sehr auf die Klassenfahrt unseres Sohnes Nick, der bei Instagram, Twitter, Facebook, Snapchat und WhatsApp digitale Pfade, was sage ich: Autobahnen hinterlässt. Es würde anschließend keinen Reisebericht brauchen, um nachzuerleben, was in Manderscheid in der Vulkaneifel geschehen war. Eigentlich wollten die Kinder übrigens nach Berlin, aber irgendwer hatte aus Jux als Ziel Manderscheid vorgeschlagen und aus Versehen hatte der Elternabend schließlich dafür abgestimmt. Nick sprach eine Woche nicht mit mir, dann fand er sich mit Manderscheid ab und wir brachten ihn zum Bus.
Kurz hinter Karlsruhe der erste Ärger, weil Nicks Freund Finn einem Mitschüler Eistee in den Hemdkragen geschüttet und einen Film darüber gepostet hatte. Die Rache dafür bestand aus Nippeldrehen und der Veröffentlichung eines Fotos des schlafenden Finn, dem ein glänzender Spuckefaden aus dem Mund hängt. Als Mitglied der WhattsApp-Gruppe „Fucking Manderscheid“ bekam ich diese und viele weitere Bilder geschickt, denn die ganze Klasse ist dort nebst sämtlichen Eltern versammelt. Das letzte Foto von der Hinreise zeigte einen hockenden Mann mit heruntergelassener Hose und käsigen Beinen, der offenbar hinter einem Strauch überrascht wurde und sehr unglücklich aussah. Darunter stand „Flotter Otto!“ Der Mann auf dem Bild ist Erdkundelehrer, 58 Jahre alt und heißt Otto Wessel. Und es war das letzte Bild aus Schülerhand, das uns erreichte.
Am Abend kam stattdessen eine längere Nachricht, wonach Herr Wessel sämtliche Smartphones eingesammelt habe, weil die Kinder damit nur Unsinn machten. Er sei aber mit der Klasse dahingehend einig, dass man die Reise dokumentieren müsse und deshalb werde er ab sofort die Eltern in dieser WhattsApp Gruppe über den Fortgang der Klassenfahrt auf dem Laufenden halten. Er werde dies schnell lernen. Offensichtlich war das alles kein Witz. Ich versuchte, unseren Nick zu erreichen, aber sein Telefon war ausgeschaltet. Dafür kam aber ein Bild. Darauf waren unfassbar missgelaunte Jugendliche an einem langen Tisch in einer Jugendherberge zu sehen. Darunter stand: „Verpflegung passabel. Smiley.“
Wenig später folgte das Foto von Lehrer Wessels Zimmer, darunter hatte er geschrieben: „Einzelzelle, Zwinkersmiley“. Von da ab postete Wessel wie entfesselt. Er fotografierte, teilte und kommentierte seine Bilder, als müsse er seinen Knipsrückstand auf die Jugendlichen innerhalb von einer Woche aufholen. Und er vergaß nicht, seine Nachrichten mit hässlichen Emojis zu verzieren. Mein Handy vibrierte und brummte wie ein oberbayerischer Bierzelttrinker. Im Minutentakt berichtete Wessel, wobei er derart stinklangweilige Fotos präsentierte, dass mir die Kinder schon nach einem Tag leidtaten. Unter einem Bild von einem Eifeler Landbrot stand: „Proviant.“ Mehrere Jugendliche vor einem Fachwerkhaus im Regen: „Wanderung bei ausbaufähigem Wetter.“ Eine Gitarre mit der Bildunterschrift: „Lehrerklampfe wartet auf Einsatz.“ Himmel, die armen Kinder. Am dritten Tag regte sich Elternprotest und erste Opfer des Wesselschen Bildersturms verließen die Gruppe. Andere schrieben „Erbarmen. Bitte keine Bilder mehr.“ Daraufhin verlegte sich Wessel auf Kurztexte wie diesen hier: „Heute Chillaxen am Maar, das Wasser könnte wärmer sein.“ Gähn. Was für eine schlimme Reise. Keine Bierdosen, keine rauchenden Mädchen, keine Kurzfilme von Durchkitzelungen, nur Wessels öde Diaschau.
Als Nick wieder zuhause war, fragte ich ihn nach Höhepunkten. Aber er lächelte nur und sagte: „Die werde ich Dir gerade noch auf die Nase binden.“ Und mir schwante, dass alles stattgefunden hatte, was auf Klassenfahrten normalerweise stattfindet. Bloß Wessel hat nichts davon mitbekommen. Und wir damit auch nicht. Trotz WhattsApp. Eigentlich eine Sauerei.