Mein Leben als Mensch — 31.08.2017

541_Carlas Futtermaschine

Diese Kolumne ist eigentlich nicht als Therapiemaßnahme gedacht. Aber heute muss ich mich mal beklagen, meinem goldenen Herzen Luft machen, mich einfach mal auskotzen. Es geht um Paul. Das ist der neue Freund unserer Carla. Ich halte den Kerl nicht mehr aus. Im Grunde genommen sind es nur zwei Dinge, die mich an ihm wahnsinnig machen. Kleinigkeiten. Aber fahren Sie mal mit einem Menschen in den Urlaub, der ihnen ununterbrochen auf den Wecker geht wie ein Rauchmelder in einer Zigarren-Lounge. Ich bin echt tolerant, aber selbst Mahatma Ghandi hätten diesen Paul nach einem Tag hysterisch lachend ausgepeitscht.
Also. Zwei Dinge. Erstens. Er isst. Ununterbrochen. Entweder, er hat unsere Tochter im Mund oder irgendwas, das er anschließend runterschluckt. Wann immer man ihm im Ferienhaus, im Garten, auf der Straße oder im Swimmingpool begegnet: Er kaut irgendwas. Er wirft sich Trauben in den Hals, er knabbert Cracker. Er isst die Reste von fremden Tellern. Dauernd steht er in der Küche und bereitet mehrlagige Sandwiches zu. Er glotzt stundenlang kauend in den offenen Kühlschrank. Bei Städtebesichtigungen hat er drei Stunden lang Eis in der Hand. Und zwar nicht dasselbe Eis, sondern unaufhörlich neue. Mit den Eisstielen des Urlaubs könnte er mühelos den Eiffelturm nachbauen.
Zu meinem großen Ärger ist Paul ein athletischer Typ. Kein Gramm Fett zu viel. Eigentlich müsste er 180 Kilo wiegen, weil er täglich ungefähr 40 000 Kalorien unterschiedlichster Herkunft verputzt. Aber er hat einen Waschbrettbauch und Schultern wie ein Schwimmer. Beim Backgammon-Spielen isst er Chips, beim Lesen isst er Pistazien, beim Sprechen isst er Kuchen und spuckt einem die Krümel ins Gesicht.
Das könnte man aushalten. Aber was er da spricht, das ist das zweite Problem. Der Junge redet nur Unsinn. Totalen Quatsch. Ich hoffte erst, dass er das mit Absicht macht, aber je länger der Urlaub dauerte, desto klarer wurde mir, dass Paul sehr schnell an die Grenzen messbarer Hirntätigkeit kommt. Wahrscheinlich verdaut er die vier Bananen, die er vorhin gegessen hat, im Kopf. Zum Nachdenken fehlen ihm dort dringend benötigte Kapazitäten. Er spricht daher nur in irgendwo notdürftig gespeicherten Redewendungen, die er jedoch ständig falsch zusammensetzt, was zu völlig sinnlosem Gestammel führt.
„Reden ist silber, aber nicht jedes Gold glänzt“. Stabhochsprung ist für ihn „ein Dorf mit sieben Siegeln.“ „Wer nicht fühlen will, hat doppeltes Leid.“ „Für die Welt bist Du niemand. Aber für niemand bist Du die Welt.“ Beim letzten Satz fiel ihm selber auf, dass da was nicht stimmte. Er aß ein Butterbrot, bis ihm wieder einfiel, was er eigentlich hatte sagen wollen: „Für jemand auf der Welt bist Du jemand, aber für die Welt bist Du einfach nur niemand.“ Sara und Nick haben damit begonnen haben, aus Pauls Geplapper eine Kunstsprache zu entwickeln. Nick sagte: „Der frühe Vogel fällt selbst hinein.“ Und Sara erklärte mir gestern Abend, als sie noch etwas Trinken wollte: „Wo ein Wille ist, ist auch Likör.“
So hatten alle Spaß im Urlaub, nur ich wurde langsam wahnsinnig. Und ich glaube, zumindest Carla ist irgendwie auf meiner Seite. Gestern, am letzten Abend, fasste sie Pauls Wesen in einer Spruchwahrheit zusammen, die an Exaktheit nichts zu wünschen übrigließ. Nachdem er mit einer halben Kartoffel in der Hand den Esstisch verlassen hatte, um seine Tasche zu packen schaute sie in die Runde, seufzte kurz und sagte: „Ja, ich weiß. Er ist dumm wie Gold, aber er hat ein Herz aus Brot.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.