555_Jürgen dreht auf
Ständig bin ich zu fünfzigsten Geburtstagen eingeladen. Das ist mühselig und hat zwei Gründe: Erstens war der Jahrgang 1967 sehr geburtenstark. Es kamen damals in Deutschland 1 272 276 Kinder auf die Welt, darunter Boris Becker, Jürgen Klopp und ich. Und zweitens habe ich sehr viele Bekannte in diesem geburtenstarken Jahrgang. Es kommt mir so vor, als wäre ich in diesem Jahr zu 1 272 276 Geburtstagspartys gebeten worden.
Mein Schwager Jürgen lud am letzten Mittwoch zu sich ein, um in seinen fünfzigsten Geburtstag hinein zu feiern. Reinfeiern finde ich inzwischen deprimierend, besonders an einem Mittwoch. Man möchte ja um Mitternacht eigentlich gerne im Bett sein und rechnet ständig nach, wann man endlich nach Hause gehen darf, ohne den Gastgeber zu brüskieren. An einem Mittwoch vielleicht schon um zwanzig nach Zwölf. Meistens setzt dann eine massenhafte Flucht ein, der man sich quasi unentdeckt anschließen kann.
Jürgen öffnete in einer aparten Aufmachung, die dem Motto der Einladung geschuldet war. Die Verkleidungsanweisung lautete „Australien“. Ich hatte sie ignoriert, denn ich gehe nicht zu Motto-Partys. Der einzige Weg, mich an einem Mittwochabend mit Champion’s League im Fernsehen zu Jürgen zu bekommen, ist ohne Verkleidung. Immerhin machte meine Frau mit. Sie trug einen Hut mit vor dem Gesicht herunterbaumelnden Korken. Jürgen hatte sich eine Hälfte eines Bumerangs an die Stirn geklebt. Es sollte so wirken, als stecke das Wurfholz in seinem Kopf fest. Aber es sah eigentlich nur so aus, als habe sich jemand ein Stück Holz an den Schädel geklebt. Seine Frau Lorella, Saras Schwester, ging als Ayers Rock. Zu diesem Zweck hatte sie einen Schuhkarton rot bemalt und auf ihren Kopf gesetzt.
Es wurden vegane Snacks gereicht, die schmeckten wie nasses Kaminholz. Wahrscheinlich handelte es sich um nasses Kaminholz. Mein Plan, in eine solide Trunkenheit auszubüchsen wurde dadurch vereitelt, dass es keinen Alkohol gab, denn Jürgen wollte niemanden in Versuchung führen, an einem Werktag verkatert aufzuwachen. Schade. Dafür hielt er aber ein Impulsreferat über vegane Lebensweise, dem die meisten seiner Gäste begeistert folgten. Wie sich herausstellte, rekrutierten sich seine Gratulanten weitgehend aus einem Volkshochschulkurs, den er seit einiger Zeit gibt. Der Titel des Kurses lautet: „Achtsam und nachhaltig mit traumatisiertem Gemüse leben“. An die nächsten Stunden kann ich mich nicht erinnern. Ich verbrachte sie in einer Art Dämmerschlaf, während mir eine gewisse Monika von ihren Erfahrungen als Heilerin im Spessart und ihrer Entdeckung von reptiloiden Mitarbeitern im Münchner Kreisverwaltungsreferat berichtete.
Es ging dann allmählich auf Mitternacht zu und Jürgen befüllte eine Batterie von Sektgläsern mit Sprudel, der ja auch perlt. Prickelspaß ohne Reue sozusagen. Wer wollte, durfte Holundersirup hinzufügen. Schließlich verkündete er, dass es laut seiner Atomuhr Zwölf sei. Lorella trug mit einigen Freunden ein sehr langes Paket herein. Ich hatte mich an diesem Geschenk beteiligt. Ich finde das sehr praktisch. Man gibt Geld, unterschreibt auf einer großen Karte und kümmert sich nicht weiter. Ich wusste auch nicht, was in dem Paket war, bis Jürgen es entsiegelte. Es enthielt ein von hungrigen Termiten im australischen Kernland ausgehöhltes Stück Eukalyptusbaum, man könnte auch sagen: Ein Didgeridoo. Jürgen war kaum zu beruhigen. Und ich auch nicht. Ich wollte sofort weg, aber Sara hielt mich am Arm fest, denn es ist wie gesagt unhöflich, sofort nach Mitternacht zu gehen.
Also setzten wir uns wie alle anderen auf den Teppich und hörten Jürgen bei seinen ersten Spielversuchen zu. Ich saß direkt vor dem Instrument und kam in den Genuss sämtlicher Obertöne, zu denen mein Schwager fähig ist. Er steigerte sich rasch in eine hyperventilierende Didgeridoo-Raserei und trötete mir seine Improvisationen direkt unter die Schädeldecke. Gegen ein Uhr griff ich zum letzten Mittel, täuschte erfolgreich einen Milzriss vor und wir gingen nach Hause. Am nächsten Morgen hatte ich den unvorstellbarsten Kater meines ganzen Lebens. Ich bin schon fünfzig, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt. Das Erstaunlichste daran war: ich hatte keinen Schluck Alkohol getrunken. Danke, Jürgen.