Mein Leben als Mensch — 11.12.2017

557_Showdown im ICE

Aus der Reihe „peinliche Momente, die man nie vergisst“: Neulich bat ich einen älteren Herrn, den von mir im Zug reservierten Platz zu räumen. Ich hatte das Ticket kurz vor der Abfahrt mit dem Handy gekauft. Die Reservierung wird in so einem Fall nicht in der Anzeige über dem Sitzplatz dargestellt. Dort steht nur „ggf freigeben“. Und das fand der Mann ungeheuerlich. Er fühlte sich davon brüskiert, dass diese kleine Formulierung „ggf freigeben“ die Macht besaß, ihn von seinem Platz zu vertreiben. Er sagte erst, das sehe er gar nicht ein und fügte dann hinzu, er werde das bis Frankfurt aussitzen. Ich sagte, dass er leider aufstehen müsse und zeigte ihm mein Handy mit der Reservierung. Er schaute aber nicht hin, sagte nichts mehr und tat so, als läse er seine Zeitung.
Ich will keine Petze sein. Aber ich möchte auch nicht vier Stunden rumstehen. Also suchte ich den Schaffner. Er war gerade dabei, eine Suppe durch den Zug zu tragen, was ich kleckervermeidungstechnisch eine anspruchsvolle Performance finde, mit der man gut bei „Wetten, dass…“ auftreten könnte. Seit der Einstellung dieser Sendung gibt es keinen öffentlichen Ort mehr für die Würdigung derartiger Spitzenleistungen. Egal. Der Schaffner sagte, er komme gleich. Ich drückte mich zwanzig Minuten in der Nähe meines Sitzes herum und fühlte mich schlecht, weil ich dem Herrn auf meinem Platz die Reise verderben musste. Es war mir peinlich.
Und es wurde noch viel unangenehmer, als der Schaffner kam und sehr laut sagte: „So. Was ist denn jetzt hier los?“ Er klang wie ein Sonderpädagoge, der einen Streit zwischen zwei imbezilen Köchen schlichten muss. Die anderen Gäste freuten sich auf den Showdown. Ich zeigte dem Schaffner die Reservierung. Der Schaffner bat den Reisenden höflich, diese anzuerkennen. Der Mann las weiter die Zeitung. Der Schaffner sprach etwas von Beförderungsregeln und dass er sonst weitere Kräfte informieren müsse und dass der Mann bitte nun sofort den Platz räumen müsse. Der Mann bekam einen Wutanfall und zerknüllte seine Zeitung, warf sie auf den Boden und rief, dass diese Behandlung eine Zumutung sei und er so etwas noch nie erlebt habe und sich beschweren werde. Aber immerhin stand er auf.
Da mischte sich ein anderer Mann ein, ebenfalls älter und offenbar militärisch geprägt, vielleicht Oberfeldwebel oder General oder so. Jedenfalls schnauzte er den renitenten Reisenden mit kristallklarer Stimme an: „Maul halten, Gepäck aufnehmen.“ Und komischerweise gehorchte der Herr ohne zu murren auf den Marschbefehl, holte seinen Koffer aus der Ablage und verschwand in den endlosen Weiten des ICE.
In Stuttgart stiegen neue Passagiere ein, darunter eine Geschäftsfrau, die sich neben meinen Sitz stellte und verkündete, ich säße auf ihrem Platz. Ich entgegnete, dass könne gar nicht sein und lächelte sie charmant an, weil ich finde, dass man Menschen ihren Reservierungs-Irrtum nicht vorhalten sollte. Solche Unzulänglichkeiten sind ja eher sympathisch. Die Dame stellte ihr Gepäck ab und machte sich auf die Suche nach dem Schaffner. Sie kamen zusammen zurück und er hatte einen kapitalen Suppenfleck auf der Krawatte. Er rief „Ach, Sie schon wieder“, was sämtliche Fahrgäste verstummen und zu mir hinüberblicken ließ. Er kontrollierte ihre Reservierung, kontrollierte die Sitzplatznummer und bat um mein Ticket. Ich zeigte ihm mein Handy und er sagte: „Ja, da stimmt alles. Bloß nicht das Datum. Sie haben einen Sitz für eine Fahrt im Januar gebucht. Wenn ich dann bitten dürfte.“ Tatsächlich fiel mir ein, dass ich früher am Tag eine Reiseauskunft für in ein paar Wochen ins Handy getippt hatte. Und später, beim Buchen des Tickets, hatte ich offenbar vergessen, das Datum zu ändern. Stille im Zug, nicht einmal Brötchentütengeraschel. Menschen, die den Kopfhörer abnahmen, um teilzuhaben. Und dann, in die lautlose Spannung hinein die Stimme des Generals a.D., der mich anschnauzte: „Abmarsch, Klatschmarsch, zwei, drei.“
Ich nahm mein Gepäck aus der Ablage und machte mich auf den Weg. Ich suchte den alten Herrn. Ich wollte mich entschuldigen. Kaffee anbieten. Aber ich fand ihn nicht. Daher auf diesem Wege: Es tut mir leid. Entschuldigung. Und eine gute Fahrt noch.

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