839_Die Anforderungen der Zukunft
Je nachdem, von welcher Perspektive aus man es betrachtet, wachsen die Anforderungen an uns Menschen – oder sie werden immer geringer. Wenn man es zum Beispiel vom Standpunkt älterer Oberstudiendirektoren aus in den Blick nimmt, verringern sich die Fähigkeiten der Kinder. Unsere Grundschüler waren zum Beispiel noch nie so schlecht im Lesen wie jetzt. Das ist eine Tatsache, aber vielleicht müssen sie einfach nicht mehr so viel lesen, um ihre Umwelt zu begreifen. Die Anforderung an die Kinder sinkt also in diesem Bereich, wächst aber in anderen Feldern, zum Beispiel beim Umgang mit der Digitalisierung.
Die Kids können demnach zwar schlechter lesen, sind aber vergleichsweise fit im Vergleichen von Preisen auf Online-Portalen und im Aufspüren von Abofallen. Es ist ganz schwer, vorauszusagen, welche der beiden Skills, also Lesefähigkeit oder Verständnis digitalisierter Vorgänge, besser dazu geeignet ist, ein langes und erfülltes Leben zu fördern.
Insgesamt glaube ich, dass Menschen unter zwanzig Vieles schneller kapieren als ich in meiner Jugend. Sie durchschauen die Dramaturgie von Serien in Windeseile, sie kennen rhetorische Kniffe, die mir damals nie eingefallen wären und ihre Fähigkeit, Informationen anzunehmen oder abzulehnen ist viel größer. Gerade las ich, dass die Aufmerksamkeitsspanne für Werbung bei TikTok gerade mal 0,4 Sekunden beträgt. Eine Userin oder ein User benötigt gerade mal eine halbe Sekunde, um ein Filmchen als Reklame zu identifizieren und zu überblättern. Diese Auffassungsgabe hat damit zu tun, dass die Kids seit frühester Jugend mit Quatsch beballert werden und sich deswegen damit hervorragend auskennen.
Trotz dieses beunruhigend klingenden Befundes erscheint mir die kulturpessimistische Meinung, dass die Ansprüche an die Menschen immer weiter sinken, etwas weit hergeholt. Wenn ich von mir selbst ausgehe, muss ich sogar feststellen, dass immer mehr von mir erwartet wird. Jahrelang bin ich zum Beispiel immer dann durch den Park gerannt, wenn mir danach war. Also nicht sehr oft. Eher selten.
Nun habe ich mich dazu entschieden, dies wieder öfter zu machen. Dieser Gedanke wurde maßgeblich durch Hannahs Hinweis angeregt, dass es für mich gut sei, dies wieder öfter zu machen. Ich sagte, dass ich leider meine Joggingschuhe nicht mehr fände. Sie sind weg. Irgendwie aus dem Fokus geraten, wie man so sagt. Daraufhin machte sie für mich einen Termin in einem Fachgeschäft, wo eine Dame zuerst mittels bildgegebener Verfahren aufdeckte, dass ich laufe wie ein Ostgote mit Sturmgepäck, um mir dann drei Paar Laufschuhe vorzuschlagen, die allesamt aussahen wie Hervorbringungen aus einer Töpfer-Therapie für psychisch auffällige Sportschuh-Designer. Ich entschied mich für ein weitgehend blaues High-Tech Modell und hoffte, dass mir die Menschen nicht auf die Füße gucken, wenn sie mir im Park begegnen. Diese Schuhe sind intelligenter als ich, sie verfügen über eine DNA-Loft-Dämpfung, ein segmentiertes Crash-Pad und eine Guide-Rails-Technologie. Da kann ich nicht mithalten, soviel ist sicher.
Außerdem kaufte mir Hannah eine Uhr, die andauernd meinen Puls kontrolliert, meine Schritte zählt und mir mitteilt, wenn ich mich hinsetzen soll. Kein Witz. Offenbar sind die Erwartungen an meine Hirnleistung seitens der Sportartikel-Industrie derart gering, dass man davon ausgeht, dass ich nicht weiß, wann ich gerne sitzen möchte.
Ich kam dann vom Laufen nach Hause und setzte mich zu Nick an den Esstisch, um mit ihm Kaffee zu trinken. Dann sagte er, dass er nun wisse, was er werden wolle, nämlich Prompt Engineer. Das sind Leute, die KI-basierte Programme wie Chat GPT so geschickt mit Aufgaben füttern, dass dabei brauchbare Ergebnisse rauskommen. Man sitzt also aus beruflichen Gründen an einem Monitor und tippt Suchanfragen in ein Textfeld. Nick erklärte mit leuchtenden Augen, dass man damit locker 300 Riesen im Jahr verdienen könne. „Und welche Qualifikation braucht man dafür?“ fragte ich. Nick sagte: „Man muss eigentlich nur schreiben können. Und lesen. Das ist alles.“ Ich denke nun, das könnte ein guter Ansporn für Grundschüler sein, sich in Deutsch doch mal anzustrengen.